Endlich Ruhe. Erfahrungen mit Digital Detox
Es begann mit überraschenden Beobachtungen. Dann folgte ein mehrmonatiger Selbstversuch mit der App Moment. Am Ende stand die Frage: Wie gelingt Digital Detox? Erfahrungen, Gedanken und Tipps zu einem ausgeglicheneren Gadget-Gebrauch.
Digital Detox: Drei Beobachtungen
Eine Veränderung liegt in der Luft. Smartphones, so scheint es, haben sich von einer Sensation zu einer Selbstverständlichkeit und von einer Selbstverständlichkeit zu einem Stressverstärker gewandelt. Unplugging und Digital Detox werden zu geläufigen Stichworten.
Beobachtung I: Vernetzte Menschen ohne Mobilnummer
Im Rahmen meiner journalistischen Arbeit frage ich Interviewpartner regelmäßig nach ihrer Mobiltelefonnummer. Irgendwann fiel mir auf, dass erstaunlich viele Wissenschaftler und Kulturschaffende keine haben. Bei den Betroffenen handelt es sich keineswegs nur um ältere oder gar um erfolglose Menschen. Im Gegenteil: Häufig sind es bemerkenswert produktive und gut vernetzte Kolleginnen und Kollegen, die ohne Produktivitäts- und Vernetzungsapps auskommen, kein Smartphone benutzen oder sogar gänzlich auf ein Mobiltelefon verzichten.
Beobachtung II: Manager, die ihre eigenen Produkte meiden
Steve Jobs war einmal mehr der erste. Bereits im Jahr 2010 gestand er einem Reporter der New York Times, seinen Kindern das iPad vorzuenthalten:
„We limit how much technology our kids use at home.“
Chris Anderson, von 2001 bis 2012 Chefredakteur des Magazins Wired, der Hauspostille des Silicon Valley, erlegt seinen Kindern strenge Zeitrestriktionen beim Gebrauch von Bildschirmgeräten auf:
„That’s because we have seen the dangers of technology firsthand. I’ve seen it in myself, I don’t want to see that happen to my kids.“
Und kürzlich äußerte sich Apple-Chef Tim Cook ähnlich:
„I don’t have a kid, but I have a nephew that I put some boundaries on. There are some things that I won’t allow. I don’t want them on a social network.“
Die Liste ließe sich fortsetzen, und sie enthielte Namen wie Justin Rosenstein, den Miterfinder von Facebooks Like-Button, der sein iPhone mit einer Kindersicherung ausstatten ließ, und den Facebook-Chef selbst, der dem Guardian zufolge ein zwölfköpfiges Team beschäftigt, das sein Facebook-Konto betreut: Digital Detox.
Aus Sorge um das psychische und soziale Wohlergehen ihrer Kinder schicken Top-Manager der Tech-Branche ihre Söhne und Töchter längst auf Schulen, die Bildschirmgeräte aus dem Unterricht verbannen, wie ebenfalls der Guardian berichtet:
„Google, Twitter and Facebook workers who helped make technology so addictive are disconnecting themselves from the internet. (…) It is revealing that many of these younger technologists are weaning themselves off their own products, sending their children to elite Silicon Valley schools where iPhones, iPads and even laptops are banned.“
Beobachtung III: Apps gegen Apps
Der digitale Kapitalismus wäre nicht er selbst, wenn es nicht längst Angebote auf dem Markt gäbe, die unglücklichen Nutzern dabei helfen, sich am Software-Schopf aus dem Sumpf der Smartphone-Zerstreuung zu ziehen. Ein Beispiel dafür ist die Digital Detox App Freedom, die erlaubt es, Bildschirmzeit zu begrenzen:
Im Gegensatz zur der irritierend aufdringlich werbenden Software Freedom überzeugt die Anwendung Moment durch einen zurückhaltenderen Stil. Sie ermöglicht es, den eigenen Gadget-Gebrauch zu verfolgen und zu beeinflussen. Die von Kevin Holesh aus Pittsburgh entwickelte Anwendung zeichnet auf, wie oft man sein Smartphone oder Tablet in die Hand nimmt und wie lange man es nutzt (Telefonate und Musikhören ausgenommen). Visuelle und akustische Signale zeigen an, wenn die Nutzung ein selbstgesetztes Limit überschreitet. Zudem lässt sich eine screen free time festlegen, durch die beispielsweise der nächtliche Gadget-Gebrauch unterbunden wird.
Die App, die den Teufel mit dem Beelzebub austreiben will, hat gegenüber konkurrierenden Anwendungen eine Reihe von Vorzügen, darunter ein ansprechendes Design, das die angenehmen Töne von Cleartones nutzt, sowie strenge Datenschutzvorkehrungen. Der Entwickler erklärt die technischen Schwierigkeiten und Alternativen seiner App sehr genau und macht klar, warum – im Gegensatz zu einer Reihe unqualifizierter Nutzerkommentare im App Store – seine Anwendung den höchstmöglichen Datenschutzstandard verfolgt. Moment verfolgt die App-Nutzung im Hintergrund, über den Umweg der Ortungsdienste, ohne dabei Daten zu übertragen:
„Location data is stored on your physical phone in a secure place that other apps cannot touch. Moment never sends that location data over the internet and I personally never see that data, by design.“
Die Anwendung kombiniert die Idee der Transparenz mit der des Nudging, also der Verhaltenssteuerung durch kleine Signale, um zu einem ausgeglicheneren Gadget-Gebrauch beizutragen. Paradoxerweise erfolgt die Entwöhnung gerade durch die Zunahme von Benachrichtigungen, weil sich die Anwendung jedes Mal meldet, wenn selbstgesetzte Limits überschritten werden. Verwendet man sein Gerät nach der gewünschten Gebrauchszeit weiter, wird die Nutzung durch ein Dauerfeuer störender Mitteilungen praktisch unmöglich gemacht. Das nervt, und genau das soll es. Der Durchschnittsrückgang des Gadget-Gebrauchs von Moment-Nutzern liegt bei einer Stunde.
Über 4 Millionen Menschen haben die Gratisversion installiert, mehr als 250 000 Nutzer erwarben die erweiterte Premiumvariante.
Tracking: Ein Selbstversuch mit der App Moment
Untersuchungen zeigen, dass Nutzer die an smart devices verbrachte Zeit notorisch unterschätzen. Sie ist zumeist doppelt so lang wie die geschätzte: Wer von einer Stunde ausgeht, verbringt tatsächlich zwei am Bildschirm. Um herauszufinden, wie es sich bei mir selbst verhält, habe ich Moment auf meinem iPhone 6 und meinem iPad Pro installiert und mein Nutzerverhalten drei Monate lang beobachtet.
Das Ergebnis: Ich verbringe durchschnittlich 41 Minuten pro Tag am iPhone (was deutlich unter dem Durchschnitt von 3 Stunden und 57 Minuten liegt), mit einem Maximum von fast 3 Stunden und einem Minimum von gerade einmal 3 Minuten. Werktage bilden den deutlichen Schwerpunkt der Nutzung; im Tagesverlauf ist sie eher gleich verteilt. Durchschnittlich greife ich alle 49 Minuten zum iPhone, 17 Mal pro Tag, zwischen 3 und 60 Mal schwankend.
Die iPad Nutzung fiel moderater aus, mit Schwerpunkten am Wochenende. Das liegt daran, dass ich ein MacBook Pro als Arbeitsgerät nutze und das iPad eher zu Lektürezwecken verwende.
Digital Detox: Wie gelingt ein ausgeglichener Gadget-Gebrauch?
Warum sollte man seinen Gadget-Gebrauch zurückfahren? Warum Digital Detox? iPad und iPhone sind vielseitige, nützliche und durchaus Freude bereitende Geräte. Allerdings liegen die Nachteile übermäßiger Nutzung von Bildschirmgeräten ebenso auf der Hand: das ständige ‚checken‘; die Lektüre nutzloser, nicht selten ‚toxischer‘ Neuigkeiten; die immer länger werdende, nagende Liste der Benachrichtigungen; die Zeitverschwendung durch Unterhaltungs- und Spiele-Apps; die Gleichgültigkeit gegenüber der analogen Umgebung; die Unhöflichkeit, die darin liegt, Kommunikation mit Anwesenden faktisch für weniger wichtig zu halten als die unter Abwesenden…
Andrew Sullivan hebt einen besonders wichtigen Punkt hervor:
„What the smartphone has done in a staggeringly short amount of time is not just destroy those moments of emptiness, silence, or boredom that nourish our souls and minds, it has also reduced everything to a ’show.‘ For an entire generation, the whole idea of a moment that is valuable precisely because it is not shared or public has begun to disappear.“
Adam Alter, ein Wirtschaftspsychologe von der New York University, belässt es nicht bei der Kritik, sondern unterbreitet in einem viel beachteten TED Talk auch konkrete Vorschläge zum Digital Detox:
Nach dem Selbstversuch mit der Moment-App habe ich meine Gadgets vor mir ausgebreitet und bin jede einzelne App durchgegangen: Welche will ich behalten? Und wozu? Die Auswahl fiel nicht schwer: Smartphone und Tablet sind vor allem Geräte für unterwegs. Ich nutze iPhone und iPad, um nach der Wettervorhersage zu schauen, den Weg zu finden, Zugverbindungen und Verspätungen nachzusehen, Fahrkarten zu kaufen, unterwegs zu telefonieren, zu fotografieren und mich wecken zu lassen. Sie sind geeignet, um auf Reisen Musik zu hören, Filme zu gucken, E-Paper und vielleicht sogar E-Books zu lesen. Die Geräte eignen sich gut, um darauf Termine zu verwalten, Notizen zu machen oder zu schreiben. Das ist viel, manch anderes kann dazukommen, und es ist nichts dagegen einzuwenden.
Schwieriger wird es bei Textnachrichten, E-Mails und Newsfeeds, da diesen eine Tendenz innewohnt, zur permanenten Aktualisierung zu verführen. Wie wäre es eigentlich, Spiegel Online zu löschen? Zunächst fiel mir der Verzicht schwer, dann fühlte er sich gut an. Social Apps hatte ich ohnehin nie installiert. Sie sind es, die sich Studien zufolge mehr als alle anderen Anwendungen negativ auf das Wohlbefinden der Nutzer auswirken, im Extremfall sogar zu psychischen Abhängigkeitserscheinungen führen.
Wie bei vielen Fragen der Lebensführung besteht die Schwierigkeit darin, Maß zu halten. Nicht dem Sog zu erliegen, wenn Interfacedesigns die Schwächen der menschlichen Seele ausnutzen: sei es durch „social validation feedback loops“ (Sean Parker), sei es durch die suggestiv ’natürliche‘ pull-to-refresh-Geste, sei es durch das offen übergriffige autoplay.
Wer sich einmal zum Aufräumen der Apps durchgerungen hat, wird seine Geräte wieder als das schätzen, was sie eigentlich sein wollen: Werkzeuge, die im besten Fall ease of use mit delight verbinden. Mir jedenfalls erging es so.
Kevin Holesh bietet den Premium-Nutzern von Moment charmante In-App-Kurse zum Digital Detox an, die nicht nur erfreulich undogmatisch gemacht sind, sondern geradezu als indirekte Lebenskunstratgeber fungieren. Einige seiner Vorschläge habe ich in die nachfolgende Liste eingearbeitet, weitere greifen Ideen der New York Times und des Center for Humane Technology auf. Ein Katalog kleiner Kniffe, die dabei helfen, Routinen zu durchbrechen und Souveränität zurückzugewinnen:
- Räumen Sie auf: maximal 12 Apps auf dem Homescreen genügen. Legen Sie nur einen einzigen Ordner an, der die Bezeichnung Zeitverschwendung trägt.
- Löschen Sie diejenige App, die Sie am häufigsten benutzen und laden Sie sie erst nach 24 Stunden wieder, falls Sie es dann noch wollen.
- Keine Social Media Apps. Das ist: KEINE SOCIAL MEDIA APPS.
- Ermöglichen Sie Benachrichtigungen nur für Telefon und Textnachrichten, nicht für E-Mail, Soziale Medien oder sonstige Anwendungen.
- Installieren Sie lockscreens, die einen Moment des Innehaltens vor dem Gebrauch nahelegen. Es gibt sie hier, kostenlos.
- Gehen Sie einmal ohne Smartphone aus dem Haus.
- Greifen Sie morgens eine Stunde später zum Smartphone als bislang.
- Verlassen Sie den Raum, wenn Sie in Gesellschaft ihr Smartphone benutzen.
- Kein Smartphone bei Tisch.
- Kein Smartphone im Badezimmer.
- Kein Smartphone im Schlafzimmer.
- Flugmodus am Wochenende.
Abbildungen: How To Break Up With Your Phone, Moment App & National Day of Unplugging
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1. März 2018