Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Wahre Preise. Ein Besuch im Nachhaltigkeitsmarkt von Penny

Wahre Preise – darunter verstehen Ökonomen Preise, die den gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Fußabdruck von Konsumgütern bei der Kalkulation berücksichtigen. Ausgerechnet die zur REWE-Gruppe gehörende Discounterkette Penny sorgte vergangenen September für Aufmerksamkeit, weil sie in Berlin-Spandau einen sogenannten Nachhaltigkeits-Erlebnismarkt eröffnete, der bei einer Reihe von Lebensmitteln dem tatsächlichen Verkaufspreis einen „wahren“ gegenüberstellt. Wie hoch fallen sie aus? Ein Blick hinter die Kulissen und ein Besuch vor Ort.

Penny Grüner Weg

Es ist ein weiter Weg von den Stadtteilen mit hoher Bio- und Feinkostladendichte in die Fehrbelliner Straße 29. Doch dort, in einem unscheinbaren Wohngebiet, befindet sich der erste Nachhaltigkeitsmarkt des Discounters Penny, genannt PENNY Grüner Weg. Mit schicker Holzfassade und 20 interaktiven Info-Stationen will er seine Kunden zu einem bewussteren Konsumieren anregen. Die eigentliche Attraktion sind jedoch 16 Preisschilder, die bei ausgewählten Lebensmitteln zwei verschiedene Preise auszeichnen. Dahinter steckt ein ökonomisches Denkmodell, das unerwünschte Konsumfolgekosten einzupreisen versucht.

Penny Nachhaltigkeitsmarkt

Das Problem: Externalisierung

Vor ein paar Jahren prägte der Münchener Soziologe Stephan Lessenich den Ausdruck „Externalisierungsgesellschaft“. In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärt er seinen Ansatz:

„Unter Externalisierung würde ich im allereinfachsten Sinne verstehen, dass etwas nach außen verlagert wird, was von innen kommt. Gegensatz wäre Internalisierung, dass man also etwas einbezieht, wieder nach innen zieht, was außen war. Das könnte man sich jetzt in unterschiedlichsten Hinsichten vorstellen. Die Ökonomik, die Wirtschaftswissenschaften kennen die Problematik von Externalitäten, von externen Effekten schon lange. Da ist es also marktökonomisch so gedacht, dass ein Unternehmen, was ein Gut produziert, nicht alle Kosten, die bei der Produktion dieses Gutes entstehen, einpreisen muss, also internalisieren muss in den Marktpreis, den es dann für das Gut verlangt, sondern bestimmte Kosten abwälzen kann – in der Regel dann auf Dritte oder auf die Allgemeinheit. Das klassische Beispiel ist, man produziert umweltschädigend und die Umweltschäden – verseuchte Flüsse, schmutzige Luft – werden nicht vom Unternehmen getragen und eingepreist in das Gut, was produziert wird, sondern die werden von der Allgemeinheit getragen, der Staat muss irgendwie Kläranlagen bauen oder Luftfilter verordnen.“

Lessenich erweitert den ökonomischen Ansatz zu einer umfassenden Gesellschaftsanalyse. Nicht nur die Allgemeinheit eines Landes, auch arme Länder und künftige Generationen hätten die Auslagerung der Kosten zu tragen. So macht er am Beispiel von Smartphones darauf aufmerksam, dass viele dafür notwendige Rohstoffe „unter Bedingungen gewonnen werden, die unmenschlich sind und denen sich niemand hierzulande, niemand, auch nur einen Tag unterziehen würde“. Der Soziologe spitzt seine Diagnose mit einer Frage zu:

„Kann man sich damit anfreunden oder zumindest abfinden, dass andere deswegen schlechter leben, weil hierzulande so gut gelebt wird?“

Auch Lessenichs amerikanischer Kollege Michael Carolan teilt die These von den Schattenseiten niedriger Preise. In seinem Buch „Cheaponomics. Warum billig zu teuer ist“ vertritt er die Auffassung, dass Kosten durch Externalisierung eigentlich sozialisiert, also der Gesellschaft aufgebürdet werden. Aber wie lassen sich die „wahren“ Kosten beziffern? Und wie können sie in die Verkaufspreise zurückgeholt werden? Fragen wie diesen widmet sich eine neue ökonomische Richtung: das „True Cost Accounting“.

Der Ansatz: True Cost Accounting

Was würden Produkte wirklich kosten, wenn ihre gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen in den Verkaufspreis einflössen? True Cost Accounting („Wahre Kosten Buchhaltung“) errechnet entlang der gesamten Wertschöpfungskette „realistische“ oder „wahre“ Preise, also Preise, die zwar nicht an der Supermarktkasse bezahlt werden, aber doch indirekt, beispielsweise durch künftige Generationen oder Klimaflüchtlinge. Und von Steuer- und Abgabenzahlern, die für die Behebung von Schäden aller Art aufkommen.

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzte 2014, dass sich die verborgenen Umwelt-Kosten der Nahrungsmittelproduktion pro Jahr auf 2,1 Billionen US-Dollar belaufen. Die versteckten Sozial-Kosten seien mit 2,7 Billionen USD sogar noch höher. Greifbare Beispiele für die Umlage solcher Kosten sind beispielsweise die Höhe der Krankenkassenbeiträge, die durch ernährungsbedingte Krankheiten steigen oder Wasserrechnungen, die durch die Aufbereitung des von Düngemitteln und Pestiziden belasteten Grundwassers höher ausfallen.

Zahlreiche, sehr unterschiedliche Organisationen setzen sich mit True Cost Accounting auseinander, darunter True Price, der Sustainable Food Trust und die Ratingagentur Standard & Poor’s.

SustainabilityFlower
Abbildung: © Soil & More Foundation

Einen frühen Versuch, sozial-ökologische Kosten sichtbar zu machen, stellt die sogenannte Nachhaltigkeitsblume dar. Dieses bereits 2009 entwickelte grafische Modell, das unter anderem vom niederländischen Bio-Großhändler eosta getragen wird, vereint sieben Nachhaltigkeitsbereiche: Boden, Pflanzen, Tiere, Energie, Luft, Wasser, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.

Für Penny hat der Wirtschaftsinformatiker Dr. Tobias Gaugler vom Institut für Materials Resource Management der Universität Augsburg anhand ausgewählter Indikatoren die Umweltfolgekosten von acht konventionell und ökologisch erzeugten Eigenmarken-Produkten des Unternehmens errechnet.

Das Beispiel: Wahre Preise bei Penny

Der neue Supermarkt in Berlin-Spandau ist lediglich eine der 2170 Filialen des Discounters. Ob weitere Läden die verdeckten Gemeinkosten ihres Angebots transparent machen werden, lassen die Verantwortlichen einstweilen offen. Die Waren mit der doppelten Preisauszechnung muss man allerdings auch im „grünen“ Penny Markt eine Weile suchen. Kein Wunder, umfasst das Sortiment der Filiale doch rund 3500 Produkte, darunter 170 Bioartikel, also einen Anteil von gerade einmal 4,8 Prozent. Lediglich bei 8 Produktpaaren (also insgesamt 16 Produkten) werden die Fehlbepreisungen ausgezeichnet. An der Kasse kann man nur den Niedrigpreis und keine Folgekostenkompensation zahlen.

Penny Berlin

Penny Spandau

Wie hoch sind die wahren Preise?

Die Preisaufschläge reichen Penny zufolge von 4% bei einem Bio-Apfel bis zu 173% bei konventionell produziertem Hackfleisch. Bioware hat in jedem Einzelfall einen geringeren Preisaufschlag nötig als die konventionellen Vergleichsprodukte, aber doch erstaunliche 33% bei Gouda, 69% bei Milch und 126% bei Hackfleisch. Die Preise pflanzlicher Produkte entsprechen in erheblich höherem Maße den „wahren“ als diejenigen tierischen Ursprungs, wobei Fleisch das Produkt mit den höchsten versteckten Kosten ist.

Wahre Preise

Im Durchschnitt müssten bei den acht ausgewählten Produkte die Bio-Lebensmittel um 35% teurer werden und die konventionellen um 62%.

Wahre Preise Käse

500 Gramm gemischtes Hackfleisch kosteten nach den Berechnungen der Wissenschaftler bei Penny dann nicht mehr 2,79 Euro, sondern 7,62 Euro.

Wahre Preise Hackfleisch

Ist bio besser?

Die „wahren“ Preise wurden aufgrund von vier Indikatoren berechnet: Energie, Landnutzungsänderungen, Stickstoff und Treibhausgase. Weitere relevante Faktoren, darauf macht Penny selbst aufmerksam, wurden mangels der entsprechender Daten nicht eingepreist. Zu den fehlenden Faktoren zählen beispielsweise das Tierwohl, die Folgen multi-resistenter Keime, Emissionen aus Phosphordüngung, ökologische Schäden durch Pestizidgebrauch oder gesundheitliche Folgen durch Antibiotikaeinsatz. Mit anderen Worten: auch Pennys „wahre“ Preise sind nicht „wahr“. Es überrascht daher nicht, dass der Agrarwissenschaftler Tobias Bandel von der Impact Beratung Soil & More bei Fleisch sogar von einem Verteuerungsfaktor von drei bis fünf ausgeht.

Penny Plastik

Trotz dieser Mängel ist es ein Fortschritt, dass sich ein Discounter so offensiv der Thematik annimmt. Man fragt sich, warum Biomarktketten hier nicht entschiedener auftreten. Immerhin schneidet Bioware im Vergleich besser ab, weil sie geringere Schadkosten verursacht. Auf der anderen Seite verdeutlichen die Zahlen, dass beispielsweise Bio-Hackfleisch mehr als doppelt so teuer werden müsste, um die ökologischen Negativeffekte widerzuspiegeln. Mit anderen Worten: Wer glaubt, durch konsequenten Konsum von Bioware sich guten Gewissens nicht weiter mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen zu müssen, irrt.

Gleichwohl bleibt „bio“ zumeist die einzige Handlungsmöglichkeit veränderungsbereiter Konsumenten – vom Verzicht auf Fleisch einmal abgesehen. Letzteres freilich, darüber ist eine Reihe wissenschaftlicher Studien einig, wäre die Voraussetzung dafür, die Welt „bio“ zu ernähren. Bedenkt man, dass es beispielsweise in Deutschland gar nicht mehr genug Ackerflächen gibt, um das gehaltene Vieh satt zu bekommen, und weltweit etwa siebzig Prozent der Äcker für Tierfutter genutzt werden, bekommt man eine Vorstellung vom Ausmaß des ungehemmten Fleischkonsums. Aus diesem Grund plädiert Tobias Gaugler, der für Penny die wahren Preise errechnet hat, für eine Halbierung der 60 Kilogramm Fleisch, die ein Deutscher pro Jahr durchschnittlich verzehrt.

Wahre Preise als kulturelles Problem

Verschwiegen die Preise nicht länger sozial-ökologische Folgekosten, kosteten Bio-Produkte weniger als konventionell produzierte Ware, hob das Hilfswerk Miserior kürzlich anlässlich der Vorstellung eines informativen True Cost Dossiers hervor. In eine ähnliche Richtung argumentiert das Nachhaltigkeitsportal Utopia, wenn es betont, „dass nicht etwa bio zu teuer, sondern konventionell zu billig ist“. Man mag eine solche Position als selbstgerechtes Statement aus dem Milieu gut verdienender Biobürger abtun. Andererseits zeigt das True Cost Accounting, dass Bioladenkunden gleichsam doppelt zahlen: zum einen höhere Preise für nachhaltigere Lebensmittel, zum anderen Steuern zur Reparatur externalisierter Kosten, die von Discounterkunden in höherem Maße verursacht werden als von ihnen selbst.

So wirft die Aufdeckung der versteckten Kosten am Ende die Frage nach der kulturellen Rahmung der Debatte auf. Unterstellt nicht bereits das Wort „konventionell“, industrielle Landwirtschaft sei das auch moralisch Normale, während naturnaher, verantwortungsvoller Landbau eine luxuriöse Ausnahme bilde? True Cost Accounting erweist sich vor diesem Hintergrund als ein Weg, das mindset unserer Gesellschaft, das, was kulturell überhaupt zum Zuge kommen kann, in eine unmittelbar verständliche Sprache zu übersetzen: diejenige der Preise. Dabei jedoch steht, wie der Philosoph David Lauer hervorgehoben hat, auch der Gedanke der Ökonomisierbarkeit selbst auf dem Prüfstand:

„Was aber sind die ‚wahren Kosten‘, mit denen wir das Elend eines Mastschweins, das Leid einer Kindersklavin, die Zerstörung einer indigenen Gemeinschaft beziffern können? Wenn wir beginnen, Fragen dieser Art auch nur zu stellen, droht uns das Bewusstsein dafür verloren zu gehen, dass es Arten von Wert gibt, die auf keine ökonomischen Werte verweisen. Dass es Gründe gibt, auf etwas zu verzichten, die nichts damit zu tun haben, dass es zu teuer ist.“

Lesen Sie auch den Artikel über die wahren Kosten der Mode.

15. Januar 2021