Das Wissen des Pilzsammlers. Über Kennerschaft
Zu den schönsten Herbstlektüren zählt Peter Handkes Versuch über den Pilznarren. Nicht nur animiert dieses schmale, überraschend leichthändige Buch zum Gehen im Wald sowie zum Sammeln von Steinpilzen, es erzählt auch von einer besonderen Wissensform: der Kennerschaft.
„Bin im Wald. Kann sein, daß ich mich verspäte“
Bei Peter Handkes Versuchen handelt es sich um eine lose Folge erzählerisch-essayistischer Betrachtungen, die sich in mäandrierenden Schreibbewegungen alltäglichen Gegenständen annähern. Den Auftakt machte 1989 der Versuch über die Müdigkeit, es folgten Versuche über die Jukebox (1990), den geglückten Tag (1991), den stillen Ort (2012) und eben den Pilznarren (2013). Die Versuche sind Texte in ruhigem Ton, Erkundungen, die auf besondere Weise Handkes Poetik des Zur-Geltung-Bringens und Gerechtwerdens folgen. Sie umkreisen ihren Gegenstand, wollen ihn sinnlich vergegenwärtigen und schaffen es, gänzlich undramatische Details so zu beschreiben, dass sie von einer spannungsvoll sich vortastenden Wahrnehmung zeugen.
Auch im Versuch über den Pilznarren legt Handke nach und nach Facetten seines Themas frei: des Pilzesuchens, Pilzesammelns, Pilzezubereitens. Wie wichtig Handke die Pilze sind, belegen nicht nur zahlreiche Stellen in seinem Werk, sondern auch seine letztes Jahr in der Berliner Galerie Friese erstmals ausgestellten Zeichnungen. Sie zeugen von den Naturbeobachtungen des Schriftstellers, seinen Streifzügen, Wegen und Umwegen. „Apfel von oben, mit Rest der Blüte, Pilzabdruck“, lautet beispielsweise der Titel einer Skizze, die auch im kürzlich bei Schirmer & Mosel erschienenen Katalog abgedruckt ist.
In dem 2016 herausgekommenen Dokumentarfilm Bin im Wald, kann sein, daß ich mich verspäte sucht Corinna Belz den Schriftsteller an seinem Wohnort Chaville südlich von Paris auf und begleitet ihn bei seinen Spaziergängen. Eine Szene zeigt Handke beim Putzen und Schneiden von Pilzen:
Kennerschaft oder „Was war das für ein Wissen?“
Die Pilzkunde, welche Handkes Buch umkreist, ist nicht die naturwissenschaftliche Mykologie, sondern eine Form des Wissens, die bei der Erkundung der kulturellen Qualitäten des ‚Verbrauchens‘ eine Schlüsselstellung einnimmt: Kennerschaft. Ursprünglich stammt diese Art des Sich-Auskennens aus dem Bereich der bildenden Kunst. Bernd Wolfgang Lindemann definiert sie im Metzler Lexikon Kunstwissenschaft als
„die Begabung, die Qualität eines Kunstwerks wahrzunehmen und zu beurteilen, in zweiter Linie die Fähigkeit, Kunstwerke historisch einzuordnen, und schließlich die Befähigung, Kopien von Originalen zu unterscheiden und Zuschreibungen vornehmen zu können“
Kennerschaft beruhe
„im Wesentlichen auf Erfahrung, d. h. langem und/oder konzentriertem Umgang mit künstlerischen Arbeiten“
In einem erweiterten Sinn bezieht sich der Begriff des Kenners, Connaisseurs oder Aficionados auf Genießer, die sich beispielsweise mit Wein oder Zigarren auskennen. Sie verkörpern einen besonderen Wissenstyp, der nicht methodisch vorgeht, sondern ein Gefühl für etwas entwickelt, sich auf etwas versteht und zu unterscheiden weiß. Handkes Buch nähert sich dem „Kennertum“ an und erkundet die Beschaffenheit dieser speziellen Wissensform am Beispiel des „Pilznarren“:
„Was war das für ein Wissen? Erst einmal das Wissen über die Pilze, das Suchen, die Standorte, das Unterscheiden, das Verwechseln, das Genarrtwerden, und meinetwegen, wenn auch in seinem Fall weniger des Wissens wert, das Zubereiten.“
Fünf Merkmale der Kennerschaft lassen sich Handkes Text entnehmen:
- Das Wissen des Kenners ist ein qualitatives: „Das Zählen überhaupt, angesichts solcher Pracht, kam ihm unangemessen vor.“
- Der Kenner nimmt mit allen Sinnen wahr. Seine Art der Weltbegegnung ist ein „Aufspüren“, „Wittern“, „Gewahrwerden“, „Ausschauhalten und Stöbern“, „Ausfindigmachen oder Ansichtigwerden“.
- Der Kenner befindet sich auf Augenhöhe mit den Dingen. Er bemerkt „Farbton, Formakzent, Geruch“ und registriert „Nuancen und Schattierungen“.
- Das Wissen des Kenners ist ein indirektes, das nicht systematisch erlernbar ist. Eher hat der Kenner es mit einem „Dazulernen, einem unwillkürlichen, ihn ohne sein Zutun beschenkenden“ Hinzukommen zu tun. Daher wird er, wenn überhaupt, „eher vorsichtige Empfehlungen“ aussprechen.
- Kennerschaft kann ins Maßlose und Schädliche umschlagen, wovon Handkes Buch im letzten Drittel erzählt.
Unser Umgang mit materiellen Dingen ist weitaus reichhaltiger, als der unglückliche Begriff des ‚Konsums‘ es suggeriert. Die Beschäftigung mit Kennerschaft kann dazu beitragen, anders über den Konsum zu sprechen. Und Peter Handkes Versuch über den Pilznarren gelingt es wie nur wenigen Texten, dieser besonderen Wissensform auf die Spur zu kommen.
Abbildungen: Round Icons*
26. September 2019