Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Einkaufswagen. Ein vielseitiges Objekt der Konsumkultur

Einkaufswagen erleichtern den Warentransport, ermuntern zum Befüllen, verführen zur Zweckentfremdung und versammeln ein Selbstbild ihrer Benutzer. Jetzt hat der Fotograf Luca Ellena einen betrachtenswerten Band mit Bildern deplatzierter shopping carts vorgelegt.

Ein Erfindung aus dem Jahr 1937

1937 entwickelte Sylvan Goldman, der Besitzer einer Supermarktkette in Oklahoma City, einen Metallwagen auf vier Rädern, auf dem man übereinander zwei Drahtkörbe einhängen konnte. Zunächst war der „shopping cart“ kein Erfolg: Männer empfanden ihn als allzu feminin, Frauen glich er zu sehr dem Kinderwagen, den sie ohnehin ständig schieben mussten. Erst als Goldman eine Anzahl attraktiver Personen engagierte, die das Vehikel vor sich herschoben, änderte sich die Einstellung der Kundschaft.

Einkaufswagen
Foto: © Luca Ellena

Im Laufe der Jahre wurde Goldmans Erfindung immer wieder optimiert: vom festen Korb bis zur 1952 eingeführten, klappbaren Rückfront zum Ineinanderschieben reichen die Verbesserungen. 2006 berichtete NZZ Folio, dass in den USA jedes Jahr Einkaufswagen im Wert von 800 Millionen Dollar gestohlen werden. Die Kunden transportieren ihre Einkäufe im Wagen nach Hause und entsorgen die entwendeten Gefährte anschließend im Graben. Seither sind Sicherheitssysteme wie eine Sperrkette mit Pfandmünze im Gebrauch – mit mäßigem Erfolg, wie ein kürzlich im Kerber Verlag erschienener Bildband verdeutlicht.

Luca Ellena Einkaufswagen

Luca Ellenas fotografischer Einkaufswagen-Essay

Der Schweizer Fotograf Luca Ellena hat über die Dauer von drei Jahren Einkaufswagen im Berliner Stadtbild aufgespürt und gut 600 davon fotografisch dokumentiert. Die besten Bilder versammelt ein Buch, dessen Finanzierung Ellena durch eine Crowdfunding-Kampagne sicherstellte. Der Fotoessay zeigt deplatzierte Objekte zwischen Wohlstandsverwahrlosung und konsumkritischer Zweckentfremdung. Außerhalb der gewohnten Umgebung entgleiten Einkaufswagen gleichsam ihrer Bestimmung, besteht ihre eigentliche Botschaft doch in einer aufreizenden Mengensteigerung, wie Ulrike Hug-Stüwe in der NZZ treffend bemerkt:

„Mein Fassungsvermögen ist immer noch nicht ausgeschöpft! Es hat mehr Platz! Kauf! Mehr! Und auch wenn man sich eine Liste gemacht hat, wird man mehr als das einkaufen, was eben auf dieser steht. Wer also sparen will, der nimmt besser den Korb. Dieser wird schwer und ist im Nu voll.“

Einkaufswagen Berlin
Foto: © Luca Ellena

Während der Fotograf Ellena von sich sagt, er interessiere sich „mehr für die Auswirkungen und Spuren der Menschen als für die Menschen selbst“, hat der Schriftsteller David Wagner in einem 2011 erschienenen Supermarkt-Roman Vier Äpfel den Einkaufswagen als Inbegriff romantischer Begegnung in beschrieben:

„Einmal habe ich geträumt, mit meinem Einkaufswagen gegen einen anderen Einkaufswagen zu stoßen, in dem genau die gleichen Lebensmittel liegen wie in meinem. Die gleiche Sorte Butter, der gleiche Orangensaft, Mineralwasser des gleichen Abfüllers und noch ein paar andere identische Produkte mehr. In diesem Traum, ich habe ihn schon ein paarmal geträumt, wird dieser andere Einkaufswagen von einer selbstverständlich aufregend wunderschönen Frau geschoben, in die ich mich, ich gar nichts dagegen tun, sofort verliebe, und ihr geht es genauso, wir beide wissen sofort, wir sind füreinander bestimmt, als ob wir unser gemeinsames Schicksal noch abwenden könnten, weichen wir beide zur selben Seite aus, blockieren uns erst links, dann rechts, und denken beide für kurze Zeit, daß wir vielleicht vor einem Spiegel stehen – aber nein, wir sind zwei Individuen und bräuchten von nun an eigentlich nur noch einen Einkaufswagen.“

Zweckentfremdeter Einkaufswagen
Foto: © Luca Ellena

Luca Ellena: Einkaufswagen. 56 farbige Abbildungen. Texte von Jonathan Progin. Kerber Verlag 2020. 96 Seiten. 28 Euro.

Mehr über Objekte der Konsumkultur finden Sie im Archiv.

19. November 2020