Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Journal Culinaire. Eine Sichtung aller Hefte

Das Journal Culinaire ist ein Phänomen. Die seit 2005 halbjährlich erscheinende, trotz ihres Titels deutschsprachige Zeitschrift widmet sich „Kultur und Wissenschaft des Essens“. 2017 erhielt das Magazin den Gourmand World Cookbook Award. Was macht seine Besonderheit aus? Eine Durchsicht sämtlicher Ausgaben.

Das Journal Culinare – ein Kurzporträt

Das Journal Culinaire sticht aus der Fülle der Zeitschriften, die sich Essen und Trinken widmen, gleich doppelt heraus: zum einen dadurch, dass es ein unabhängiges Non-Profit-Projekt ohne Werbung ist, zum anderen durch seinen wissenschaftlich-praktischen Doppelzugang auf kulinarische Themen. Zu Recht schreibt Jürgen Dollase:

„Ein Kulturwissenschaftler, der sich mit der Ernährung befasst und kaum weiß, was die internationale Kochkunst zu bieten hat, ist einfach ein Unding. Umgekehrt sind Köche, die sich nur zwischen dem Lieferwagen des Großhändlers und der Küche bewegen, auch nicht gerade sichere Verbündete, wenn es darum geht, dem Kulinarischen in der Gesellschaft den richtigen Platz zu verschaffen.“

In diese Lücke stößt das Journal Culinaire. Es kommt gar nicht erst auf die Idee, bei so wichtigen Themen wie der Ernährung und dem Genuss auf Wissen zu verzichten, sei es, weil ein Ansatz als ‚zu theoretisch‘ gilt, sei es, weil Erkenntnisse als ’nur praktisch‘ abgewertet werden.

Journal Culinaire

Gegründet hat das Journal der Stuttgarter Koch Vincent Klink, der auch für das 2004 erschienene Vorläuferheft Campus Culinaire verantwortlich zeichnete, das sich dem Thema „Islam: Küche, Tafel, Tischsitten und Ritale“ widmete. 2005 kam dann Heft 1 des Journal Culinaire heraus; ab Ausgabe 6 übernahmen Martin Wurzer-Berger und Thomas Vilgis die Herausgeberverantwortung. Von Anfang an schrieben hochkarätige Autorinnen und Autoren für das Magazin, unter ihnen Tilman Allert, Juan Amador, Georg Bernardini, Thomas Bühner, Nils Henkel, Michael Hoffmann, Utz Jeggle, Kolja Kleeberg, Ernst Loosen, Eric Menchon, Robert Pfaller, Tim Raue, Josef H. Reichholf, Heinz Winkler, Joachim Wissler und Josef Zotter.

Jedes Heft hat ein Schwerpunktthema, hinzu kommen wechselnde oder wiederkehrende Rubriken wie das „Forum“, das „ABC der Dinge“, der Wiederabdruck bedeutender Texte, Rezensionen und Rezepte. Bislang sind 32 Ausgaben erschienen. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten zählten zum einen übergreifend-kulturelle Themen wie „Tischsitten“, „Geschmacksbildung“ oder „Essen in der Kunst“, zum anderen spezieller lebensmittelbezogene wie „Kräuter“, „Fermentation“ oder „Wurst vom Metzger“.

Eine ertragreiche und anregende Lektüre

Dem Journal Culinaire gelingt es bravourös, das gerade in Deutschland notorisch unterschätzte Alltagsphänomen Ernährung auf hohem Niveau ernst zu nehmen. Es ist ein Vorbild an lebensrelevanter Wissenschaft. Wo sonst fänden sich Texte mit Titeln wie „Matjesverständnis. Tradition – Praxis – Kritik“ (Henning Plotz in Heft 20) oder „Wurst im Wertewandel“ (Hubert Hohler in Heft 22)? Man liest, nicht zuletzt aufgrund des angenehmen Satzbildes, ganz einfach gerne darin, und kann durchaus verloren gehen in der Fülle der angesprochenen Aspekte. Das liegt nicht zuletzt an der Vielfalt der Disziplinen, die im Journal vertreten sind: sie reichen von den Natur- bis zu den Kulturwissenschaften und schließen das Praxiswissen ausgewiesener Könner ein.

Kulinaristik

Eine Reihe von Grundsatzbeiträgen, etwa Jürgen Dollases „Kleine Dekonstruktion des Geschmacksurteils“, die als Aufmachertext der ersten Ausgabe fungierte, oder Till Ehrlichs kulturphilosophische Überlegungen zur „Krisis der Weinkritik“ (Heft 6) und zum Wein als „Kulturgut“ (Heft 8) dürfen unterdessen als Referenztexte bezeichnet werden.

Diejenigen Hefte, die bestimmte Lebensmittel zum Thema haben, aber auch viele Beiträge zum Forum ergeben kleine warenkundliche Kompendien von hohem Wert. Wenn sich Experten wie Michael Hoffmann über Kräuter (Heft 12), Jörg Geiger über Streuobst (Heft 7) oder Walter Hartmann über Pflaumen und Zwetschgen (Hefte 12 bis 14) äußern, lohnt es sich, konzentriert zu lesen.

Kulturhistorische Trouvaillen halten die Hefte ebenfalls bereit. Es finden sich so originelle Entdeckungen wie das „Lob der Pellkartoffel. Ein schwärmerisches Dokument aus dem 19. Jahrhundert“ (vorgestellt von Isabel Pöhlmann in Heft 1)? Und wer weiß schon, dass die Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti am 8. März 1931 in Turin das erste von Künstlern geführte Speiselokal eröffneten, die Taverne Santopalato – nachdem sie zwanzig Jahre zuvor ein Nudelverbot gefordert hatten (Elisabeth Hartung in Heft 2)?

Zu den zahlreichen Erträgen der Lektüre gehören schließlich auch naturwissenschaftlich begründete Relativierungen vermeintlicher Gesundheitsrisiken. So erfährt man beispielsweise, dass zwischen „der Menge des mit der Nahrung zugeführten Cholesterins und der Höhe des Gesamt-Cholesterinspiegels kein nennenswerter Zusammenhang“ besteht (Nicolas Worm in Heft 2). Für Einsichten wie diese, aber auch für Artikel über ökologisch sensibles Einkaufsverhalten, akzeptiert man gerne die recht ausgeprägte Neigung zur Darstellung komplexer Molekülketten. Denn am Ende geht es, wie der gesunde Menschenverstand schon immer wusste, beim Essen und Trinken nicht um Ideologie und Esoterik, sondern um Genuss, Maß und Wohlbefinden.

Das Journal Culinaire erscheint in der Edition Wurzer & Vilgis. Einzelhefte sind ab 14,90 Euro erhältlich; das Jahresabo kostet 29 Euro.

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17. Juni 2021