Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Aufklärerische Weltlektüre. 30 Jahre Lettre International

Lettre International zeigt, was wahrhafter Kosmopolitismus ist. Die europäische Kulturzeitschrift belegt, dass ein Einzelner einen Unterschied machen kann. Vor allem aber lädt jede Ausgabe dazu ein, in Zeiten von Filterblasen das Selbstdenken nicht aufzugeben. Eine Gratulation zum 30jährigen Bestehen des Blattes, das sich selbst als „international, interdisziplinär und intellektuell“ beschreibt.

Lettre International

Im Juni 1984 gründete Antonin J. Liehm, ein Prager Intellektueller im Pariser Exil, die politisch-literarische Zeitschrift Lettre internationale. Liehms Ziel bestand in einem wahrhaft kosmopolitischen Blatt, inspiriert von den Korrespondenzen der Aufklärung:

„Le titre s’inspirait de la tradition du Siècle des lumières; il s’agissait de la lettre comme genre littéraire, à l’instar de celles qu’écrivaient à cette époque Voltaire ou Diderot.“

Ausgehend von einem gemeinsamen Grundverständnis, doch mit jeweils eigenem Profil, kam Lettre zeitweilig in zwölf verschiedenen europäischen Ländern heraus. Nur vier Ausgaben existieren bis heute: in Italien, Spanien, Rumänien und Deutschland.

Das deutschsprachige Lettre feiert dieser Tage Geburtstag: am 26. Mai 1988 erschien in West-Berlin die erste Ausgabe, herausgegeben von Frank Berberich. Jedes Jahr versammelte Lettre International nach eigenen Angaben mehr als 540 Seiten Essays, Reportagen und Denkanstöße aus der ganzen Welt. Insgesamt wurden 3600 Texte von Autoren aus rund 100 Ländern gedruckt. Der, wie Berberich es ausdrückt, „Ausländeranteil“ unter den Beiträgern beträgt 80%. In den 121 bislang erschienenen Heften finden sich Übersetzungen aus 40 Sprachen.

Lettre International

Lettre ist ein unabhängiges Dreipersonenunternehmen mit einem schmalen jährlichen Budget von 80 000 Euro für Autoren- und Übersetzungshonorare. Das Blatt erhält keinerlei Förderung und schafft es doch, intellektuelle Langtexte in den Bahnhofsbuchhandel zu bringen.

Gegründet in den grauen, festgefahrenen, apokalyptisch gestimmten Spätachtzigern, kommt Lettre International aus der Zeit vor dem Mauerfall, vor dem Internet, vor der Globalisierung. Lettres Internationalismus stammt aus einer Epoche, in der Ferngespräche teuer waren und so gut wie niemand E-Mail kannte. Ein analoges World Wide Web der Selbstdenker, das ist Lettre bis heute geblieben, auch wenn man den Herausgeber natürlich längst übers Mobiltelefon und das Heft auch im Internet erreichen kann.

„Lettre veröffentlicht Autoren, die Neugier und Risikobereitschaft, Genauigkeit und Phantasie, Reflexion und literarisches Vermögen zu kombinieren wissen (…) Das Zusammenspiel intensiver Reportagen, inspirierter Essays und luzider Hintergrundanalysen, spannender Interviews, brillanter Kurzgeschichten, vielschichtiger Recherchen, sensibler Porträts, pointierter Kommentare und Korrespondenzen sowie avancierter Kunst und Photographie hat Lettre zur Lieblingslektüre einer intellektuellen Leserschaft gemacht, die lebendige, ernsthafte Texte zu genießen weiß.“

Dass eine solche Selbstbeschreibung nicht überheblich oder lächerlich wirkt, erschließt sich jedem, der einmal in einer Lettre-Ausgabe geblättert hat. Auffällig ist die Übereinstimmung des in eigener Sache formulierten Profils mit Charakterisierungen von außen. So schrieb Wolfram Schütte in seiner Gratulation zum 25jährigen Jubiläum:

„Solche Redakteursfindigkeit setzt z.B. voraus (was vielen schreibenden, nur ’selbstbezogenen‘ Redakteuren abgeht): vorbehaltlose Neugier, Weltoffenheit, Furchtlosigkeit, Spürsinn, Phantasie, weitreichende Kenntnis auf allen Geistesgebieten & von deren weltweit besten Autoren.“

Dass ausgerechnet dieses durch und durch diverse Blatt wegen eines Interviews mit dem damaligen Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin in die Kontroverse geriet, sagt viel über stereotypengeleitete Erregungskultur und belegt am Ende nur, wie souverän die Lettre-Liberalität auch im Konfliktfall ausfällt. Denn das Blatt kultiviert seit jeher eine Haltung, die „dem Leser Urteilsfähigkeit zutraut und auch, mit Ungewissheiten und Experimenten zurechtzukommen“. Jeder Journalist sollte Berberichs damalige Stellungnahme einmal nachlesen; sie bleibt ein unvermindert gültiges Dokument journalistischer Aufklärung.

LI 121

Auch das Geburtstagsheft wird dem Anspruch von Lettre International gerecht,

„auf 136 Seiten pro Nummer nahezu den Umfang von drei Taschenbüchern unterzubringen. Jede Ausgabe bringt 30 bis 40 Texte mit einem Textvolumen von etwa einer Million Zeichen, dazu zahlreiche Bilder.“

Auf Zeitungspapier im unhandlichen Tabloidformat gedruckt, schüchtert Lettre durch seine schiere Menge sperriger Texte durchaus auch Wohlwollende ein. Quantität und Qualität stehen hier in einem ungewöhnlich gleichberechtigten Verhältnis: Lettre publiziert viele Texte und lange Texte, die zugleich anspruchsvolle Texte sind. Das Heft verlangt Zeit.

Lettre International 121

Die Jubiläumsausgabe eröffnet mit Tagebucheinträgen von Jean Moulin aus dem Jahr 1940. Der spätere Leiter der französischen Résistance protokollierte hier seine erste Konfrontation mit der deutschen Wehrmacht. Kaum zu glauben, doch diese Dokumente werden im aktuellen Lettre-Heft zum ersten Mal in der Sprache der Besatzer veröffentlicht.

Neben historischen Material bietet LI 121 einmal mehr ein waches Registrieren der Weltzustände, der Kunst, des Lebens. Unbeirrbar sucht das Heft Antwort auf Fragen, die sein Herausgeber Frank Berberich vor zehn Jahren, zum zwanzigjährigen Jubiläum des Heftes, auf den Punkt gebracht hat:

„Lieben wir das Leben noch? Können wir noch überschauen, was geschieht? Woran sollten wir arbeiten? Worauf kommt es an? Welche Haltung, welche Moral, welches Wissen brauchen wir? Welche Möglichkeitsräume können Kunst, Literatur und Wissenschaft noch eröffnen?“

30 Jahre Lettre International. 30 Jahre aufklärerische Weltlektüre. Chapeau – und herzlichen Glückwunsch!

Das Zitat von Antonin J. Liehm ist Roman Léandre Schmidts Studie Lettre internationale. Geschichte einer europäischen Zeitschrift (München: Fink 2017, S. 9) entnommen.

Abbildungen: © Lettre International & Round Icons*

Lesen Sie auch den Artikel über die New York Times.

14. Juni 2018