Informationssucht. Erreichbarkeitswahn. Und der Ausweg
Andrew Sullivan war der Mann, der das ganze Internet las. Er litt unter Informationssucht und Erreichbarkeitswahn. Dann ging er in eine Entzugsanstalt. Jetzt ist er wieder da und denkt über den Ausweg nach. Seine Geschichte erzählt von uns allen, und sein Rat wirkt wie eine Kur.
Wenn ich nach Vorbildern unter Bloggern gefragt werde, fällt die Antwort leicht: Andrew Sullivan und John Gruber. Beide zählen zu den intelligentesten und sprachlich versiertesten Autoren im Netz. Gruber bloggt über Technologie, Schwerpunkt Apple, mit wohlgewählten Gelegenheitsartikeln über Politik und Popkultur. Sullivan ist ein politischer Autor von stupender Sprachkraft, staunenswerter Klarheit, ungewöhnlicher Tiefe und hochgespanntem Aktualitätssinn.
Andrew Sullivans Burnout
Von 2000 bis 2015 betrieb Sullivan seinen Blog The Daily Dish. Er war bereits ein etablierter, gut bezahlter Journalist, als er alles auf eine Karte setzte, kündigte, den Dish aufbaute und am Ende der Unabhängigkeit wegen sogar auf Anzeigen verzichtete. Dann kam der Burnout. Sullivan schloß seinen Blog und zog sich zurück. Nach einer Kur meldete er sich bei seinen Stammlesern als Autor des New York Magazine zurück, wo er ein wöchentliches Politiktagebuch publiziert und gelegentlich längere Grundsatztexte verfasst. Er annoncierte seine Rückkehr auf die publizistische Bühne mit dem fulminanten Artikel I Used to Be a Human Being. Darin resümierte Sullivan seine fünfzehn Jahre lange Obsession, Neuigkeiten und Bilder in Echtzeit zu scannen, zu moderieren, zu kommentieren und ihnen seinen eigenen Dreh zu geben:
„My brain had never been so occupied so insistently by so many different subjects and in so public a way for so long.“
Er beschreibt den Weg von bescheidenen Anfängen über die Entstehung des social media Ökosystems hin zu den omnipräsenten, niemals ruhenden mobilen Anwendungen, die in weniger als zehn Jahren von etwas Unbekanntem zu etwas Unverzichtbaren wurden:
„Then the apps descended, like the rain, to inundate what was left of our free time. It was ubiquitous now, this virtual living, this never-stopping, this always-updating.“
Sullivan leugnet nicht, wie schmeichelhaft der Erfolg für ihn war: Er erreichte täglich 100 000 Leser, verdiente gutes Geld und gewann „a constant stream of things to annoy, enlighten, or infuriate me; a niche in the nerve center of the exploding global conversation“. Doch „health and happiness deteriorated“:
„Four bronchial infections in 12 months had become progressively harder to kick. Vacations, such as they were, had become mere opportunities for sleep. My dreams were filled with the snippets of code I used each day to update the site. My friendships had atrophied as my time away from the web dwindled. My doctor, dispensing one more course of antibiotics, finally laid it on the line: ‚Did you really survive HIV to die of the web?'“
Informationssucht
Der Oxford- und Harvard-Alumnus erinnert sich, dass ihm die Fähigkeit abhanden kam, konzentriert Bücher zu lesen:
„Although I spent hours each day, alone and silent, attached to a laptop, it felt as if I were in a constant cacophonous crowd of words and images, sounds and ideas, emotions and tirades – a wind tunnel of deafening, deadening noise. So much of it was irresistible, as I fully understood. So much of the technology was irreversible, as I also knew. But I’d begun to fear that this new way of living was actually becoming a way of not-living.“
Nichts macht weniger sozial als ’social media‘:
„If you’re watching a football game with your son while also texting a friend, you’re not fully with your child – and he knows it. Truly being with another person means being experientially with them, picking up countless tiny signals from the eyes and voice and body language and context, and reacting, often unconsciously, to every nuance. These are our deepest social skills, which have been honed through the aeons. They are what make us distinctively human.“
Quantität überformt Qualität:
„By rapidly substituting virtual reality for reality, we are diminishing the scope of this interaction even as we multiply the number of people with whom we interact.“
Erreichbarkeitswahn
Sullivans Denken und Handeln zeichnet sich seit jeher dadurch aus, dass er radikaler, besessener und brillanter als andere durchlebt und durchdenkt, was der Rest der Welt gleichwohl mit ihm teilt. In diesem Fall: Multitasking, Informationssucht, Erreichbarkeitswahn. Die exponentielle Steigerung und beschleunigte Umwälzung der „myriad little interruptions“ durch „content“ ist nicht nur für einen hochbegabten, übererregten Blogger von Belang. Es ist normal geworden, dass Studierende in Seminaren, Gäste in Restaurants, Eltern am Frühstückstisch den Nachrichtenstrom auf dem Smartphone für wichtiger halten als die Fokussierung auf das leiblich anwesende Gegenüber.
Sullivan zitiert eine Studie von 2015, nach der Jugendliche ihr Smartphone pro Tag 85 Mal, insgesamt fünf Stunden lang benutzen – und zugleich annehmen, sie nutzten es nur halb so viel. Als ich kürzlich bemerkte, in den vergangenen dreieinhalb Jahren über 650 Blogpost geschrieben zu haben, war ich erstaunt, dass es so viele waren. Wie viel Zeit mag ich dafür aufgebracht haben, anstatt beispielsweise zu lesen, Landschaften zu durchwandern, Freunden zu begegnen oder an einem Buch zu arbeiten? Der digitale Datenstrom verändert Gewohnheiten, die Körperhaltung und das Sozialverhalten, letztendlich die ganze Art, wie wir der Welt begegnen. Sullivan:
„Just look around you – at the people crouched over their phones as they walk the streets, or drive their cars, or walk their dogs, or play with their children. Observe yourself in line for coffee, or in a quick work break, or driving, or even just going to the bathroom. Visit an airport and see the sea of craned necks and dead eyes. We have gone from looking up and around to constantly looking down.“
Sein Text steckt voller entlarvender Beobachtungen:
„When we enter a coffee shop in which everyone is engrossed in their private online worlds, we respond by creating one of our own. When someone next to you answers the phone and starts talking loudly as if you didn’t exist, you realize that, in her private zone, you don’t.“
An anderer Stelle macht Sullivan auf die politische Dimension einer abgelenkten Kultur aufmerksam:
„Trump is the candidate for the distracted; pure synapses; no judgment; not much sleep; just impulse.“
Ambivalenz des Informationszeitalters
Ist es nur eine fragwürdige Kulturkritik oder doch eher eine nüchterne Beschreibung der eigenen Zeit, wenn Sullivan einen Verlust an Zufällen, Orientierungssinn und unproduktiv verbrachter Zeit notiert?
„Think of how rarely you now use the phone to speak to someone. A text is far easier, quicker, less burdensome. A phone call could take longer; it could force you to encounter that person’s idiosyncrasies or digressions or unexpected emotional needs. Remember when you left voice-mail messages – or actually listened to one? Emojis now suffice. Or take the difference between trying to seduce someone at a bar and flipping through Tinder profiles to find a better match.“
Doch Andrew Sullivan wäre nicht der aspektreich denkende und historisch informierte Autor, der er ist, wenn er nur die negative Seite sähe:
„We all understand the joys of our always-wired world – the connections, the validations, the laughs, the porn, the info. I don’t want to deny any of them here. But we are only beginning to get our minds around the costs, if we are even prepared to accept that there are costs.“
Auswege aus der Überinformation
Der lange Text lohnt die komplette Lektüre, nicht nur wegen seiner luziden Gegenwartsdiagnose, sondern auch aufgrund der historischen Exkurse und biografischen Elemente, die ihn unterfüttern. Zurück aus der Kur, nahm Sullivan, wie er am Ende des Artikels gesteht, viele seiner alten Gewohnheiten wieder an. Der Weg zu einem ausgeglicheneren Leben fällt ihm nicht leicht. Auf eine Leserfrage nach hilfreichen Strategien antwortete er:
„Exercise; walking dogs; just walking without a phone; real time with friends w/o phones; digital sabbath weekly.“
„‚airplane mode‘; ‚do not disturb‘; ad-blockers; turn off notifications; alarms to end phone use“
Es ist ganz einfach. Und sehr schwer.
Lesen Sie auch die Artikel über Digital Detox und Wege aus der E-Mail-Überlastung.
Abbildung: Round Icons*
25. Mai 2017