Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Wortwörtlich (44): Plan Taride

Man muss nicht mit Globus, Westermanns Schulatlas und den Falk-Faltplänen aufgewachsen sein, um staunend auf die Selbstverständlichkeit zu schauen, mit der wir Googles vorvergangenen Sonntag gerade einmal zehn Jahre alt gewordenen Kartendienst Maps benutzen. Kaum ein Zitat könnte weiter vom Zeitalter der Geodatensysteme entfernt sein als Walter Benjamins Lob des Plan Taride, das sich in seinem Passagen-Werk findet:

„Es ist für das schwach entwickelte Selbstgefühl der meisten europäischen Großstädte ein trauriges Zeugnis, daß so sehr wenige und jedenfalls keine deutsche, einen so handlichen, minutiösen und dauerhaften Plan haben wie er für Paris existiert. Das ist mit seinen 22 Karten von allen pariser Arrondissements und von den Parks von Boulogne und Vincennes der ausgezeichnete plan Taride. Wer je in einer fremden Stadt an einer Straßenecke bei schlechtem Wetter mit einem der großen papiernen Stadtpläne hantieren mußte, die bei jedem Windzug wie ein Segel schwellen, an jeder Kante durchreißen und bald nur noch ein Häufchen schmutziger bunter Blätter sind, mit denen man sich herumquält wie mit einem Puzzle, der lerne aus dem Studium des plan Taride, was ein Stadtplan sein kann. Leuten, denen die Phantasie bei der Versenkung in ihn nicht wach wird und die ihren pariser Erlebnissen nicht lieber über einem Stadtplan als über Photos oder Reiseaufzeichnungen nachhängen, denen kann nicht geholfen werden.“

Quelle: Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Erster Band. Hg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 1983, S. 136f

16. Februar 2015