Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Wortwörtlich (75): Heinrich Mann in Marseille

Im Frieden und unter Wohlstandsbedingungen gerät der Konsum leicht zum banalen Zeitvertreib, doch in schweren Zeiten können Komfort und Genuss etwas bedeuten und sich als Ausdruck kultivierter Gesinnung erweisen. So schreibt der bereits letzte Woche zitierte Jurist und Journalist Alfred Kantorowicz, der Deutschland 1933 verlassen musste, in seinen Erinnerungen ans Exil in Südfrankreich über seine letzte Begegnung mit Heinrich Mann, die in einem Marseiller Restaurant stattfand:

„Heinrich Mann griff zur Weinkarte, prüfte sorgsam und machte seinen Vorschlag, einen Rosé zu Beginn. Wir aßen und tranken immer noch schweigend. Nachdem wir die Flasche Rosé geleert hatten, bestellte er Burgunder aus dem Jahre 1912 – ein Wein, der gewachsen und gekeltert war vor der Zeitwende, als es das alte Europa noch gab. Nachdem wir auch diese Flasche ausgetrunken hatten, lehnte er sich in dem altmodischen Plüsch, auf dem man saß, zurück, blickte verloren um sich und sagte in seiner norddeutschen Mundart vor sich hin: ‚Tjä, da soll ich denn nun nach Amerika … Da wird’s wohl nur Schnellrestaurants geben …‘ „

Quelle: Alfred Kantorowicz: Exil in Frankreich. Merkwürdigkeiten und Denkwürdigkeiten. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1986, S. 153.

21. September 2015