Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Wortwörtlich (80): Die Ära des Verdachts

Wir sind nie modern gewesen: Bereits der Titel von Bruno Latours „Versuch einer symmetrischen Anthropologie“ zeigt die geistige Agilität und Formulierungsgabe des französischen Denkers. Man muss ihm nicht in alle Winkel seiner Argumentation folgen, um den Grundimpuls einer Unzufriedenheit mit kulturkritischen Routinen zu teilen:

„Wir versuchen nicht mehr, noch gerissener, noch kritischer zu sein, die Ära des Verdachts noch weiter voranzutreiben. (…) haben wir nicht langsam genug Tränen vergossen über die Entzauberung der Welt? Haben wir uns nicht allmählich genug Angst eingejagt mit der Vorstellung des armen Europäers, der, in einen kalten und seelenlosen Kosmos geworfen, auf einer reglosen Erde in einer sinnentleerten Welt umherirrt? Haben wir nicht allmählich genug geschaudert angesichts des Schauspiels vom Proletarier als Anhängsel der Maschine, der absolut beherrscht wird von einem technologischen Kapitalismus, einer kafkaesken Bürokratie, allein und verlassen inmitten von Sprachspielen, verloren in einer Welt aus Beton und Resopal? Haben wir nicht allmählich genug gejammert über den Konsumenten, der seinen Fahrersitz nur verläßt, um sich aufs Sofa vor den Fernseher zu hocken, wo er von den medialen Mächten der postindustriellen Gesellschaft manipuliert wird?“

Quelle: Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 65 & 152.

26. Oktober 2015