Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Wortwörtlich (9): Vollbärte

Seit einigen Jahren sind Vollbärte unter jungen Männern hip – warum? Stefan Zweig beobachtete dieselbe Mode bereits vor hundert Jahren, in jener „Welt der Sicherheit“, die mit dem Ersten Weltkrieg unterging und die er in seinem Erinnerungsbuch Die Welt von Gestern beschrieb:

„Während heute in unserer vollkommen veränderten Zeit Vierzigjährige alles tun, um wie Dreißigjährige auszusehen und Sechzigjährige wie Vierzigjährige, während heute Jugendlichkeit, Energie, Tatkraft und Selbstvertrauen fördert und empfiehlt, mußte in jenem Zeitalter der Sicherheit jeder, der vorwärts wollte, alle denkbare Maskierung versuchen, um älter zu erscheinen. Die Zeitungen empfahlen Mittel, um den Bartwuchs zu beschleunigen, vierundzwanzig- oder fünfundzwanzigjährige junge Ärzte, die eben das medizinische Examen absolviert hatten, trugen mächtige Bärte und setzten sich, auch wenn es ihre Augen gar nicht nötig hatten, goldene Brillen auf, nur damit sie bei ihren ersten Patienten den Eindruck der ‚Erfahrenheit‘ erwecken konnten.“

Quelle: Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1970, S. 51. 11,95 Euro.

Postskriptum

In Zusammenarbeit mit dem Theatermuseum Wien, wo noch bis zum 12. Jänner 2015 eine große Stefan-Zweig-Ausstellung zu sehen ist, erschien kürzlich im Christian Brandstätter Verlag das vorzügliche, von Klemens Renolder herausgegebene Lesebuch Stefan Zweig – Abschied von Europa. Auf 304 Seiten beleuchtet es unter anderem Zweigs Autobiografie im Lichte des Exils. Es kostet 34,90 Euro.

Stefan Zweig Passfoto London
Stefan Zwei Ellis Island

Die Abbildungen, Ausstellung und Buch mit freundlicher Genehmigung entnommen, zeigen Passfotos, die Zweig 1940 in London anfertigen ließ sowie seine Fingerabdrücke, abgenommen vom Police Department New York am 30. Juni 1940.

Fotos: © Stefan Zweig Centre Salzburg & Ellis Island Foundation New York

2. Juni 2014