Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Wortwörtlich (47): Mitwissende Dinge

Im Jahr 1925 schreibt Rainer Maria Rilke einen Brief an Witold Hulewicz, in dem er „die Dinge unseres Umgangs und Gebrauchs“ mit einem interessanten Argument in Schutz nimmt. Man solle nicht gering über sie denken, da sie – gerade in ihrer Vergänglichkeit – „Mitwisser unserer Not und Frohheit“ seien. Dann freilich verleiht Rilke seiner Überlegung einen modernitätskritischen Dreh, der nicht ohne Antiamerikanismus auskommt und neunzig Jahre später als überflüssig fallen gelassen werden kann, ohne der Schönheit seines Gedankens etwas zu nehmen. Denn warum, fragt man sich, sollte etwa eine alte Jazz-Platte oder eine Erstausgabe von Allen Ginsbergs Howl kein ‚uns mitwissendes Ding‘ sein?

„Noch für unsere Großeltern war ein ‚Haus‘, ein ‚Brunnen‘, ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertraulicher; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten. Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen… Ein Haus, im amerikanischen Verstande, ein amerikanischer Apfel oder eine dortige Rebe, hat nichts gemeinsam mit dem Haus, der Frucht, der Traube, in die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen war… Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben.“

Quelle: Rainer Maria Rilke: Briefe. Hg. vom Rilke-Archiv in Weimar. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Karl Altheim. Frankfurt/Main: Insel Verlag 1930, 2. Aufl. 1966, S. 898f

9. März 2015