Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Konsum in Zeiten des Krieges

Einen Monat nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine sitze ich bei schönstem Frühlingswetter an meinem Berliner Schreibtisch und zögere, den nächsten Post über die Feinheiten des guten Lebens zu veröffentlichen. Es fühlt sich nicht richtig an. Tastende Gedanken über Krieg und Konsum.

Warum habe ich kein gutes Gefühl dabei, in diesen Tagen über das gute Leben zu schreiben, ohne dabei den Krieg in den Blick zu nehmen? War die Welt nicht bereits zuvor voller Hunger, Gewalt und Grausamkeit, ohne dass man deshalb ständig und in allen Lebensbereichen daran gedacht hätte? Ist es nicht gerade in schlimmen Zeiten ratsam, sich auch mit Anderem als nur den negativen Dingen zu beschäftigen?

Mag sein, und doch ist der verbrecherische Angriff auf die Ukraine ein beklemmender Anlass, gründlicher als zuvor über die politische Seite westlichen Wohlergehens nachzudenken. Es genügt, in die Gesichter jener Menschen aus Kiew zu blicken, die das New York Times Magazine dieser Tage in einer berührenden Fotostrecke zeigte, um nicht zur Tagesordnung überzugehen. Die Porträts erzählen bewegende Geschichten:

„Five years ago, Vladyslav Malashchenko, 26, opened Good Bread From Good People, a bakery that employs adults with mental or psychological disabilities and specializes in cakes and hot lunches. On the day before Russian Army units rolled onto Ukrainian soil, Malashchenko, sensing the impending crisis, held a meeting with the staff, in which they decided to stop selling to individual customers and bake bread for the public good. They quickly procured an additional 150 kilograms of flour and set to work. ‚I am not militant in my nature,‘ Malashchenko said, ‚but I can bake bread.'“

Es wäre jedoch unaufrichtig, lediglich die humanitäre Seite dieses brutalen Krieges als Grund für das eigene Innehalten anzuführen. Denn Putins Aggression beschäftigt die westliche Welt und vor allem Europa nicht zuletzt deshalb so sehr, weil sie so beängstigend nah an das eigene Leben herangerückt ist und unser Wohlstandsmodell ins Wanken bringt.

Der Krieg und die Fragilität des Wohlstands

Man mache sich nichts vor: Putins Krieg folgt einer geopolitischen Logik, für die unter anderem auch das Baltikum und sogar Gotland strategisch wichtige Ziele sind. Die Energieabhängigkeit von Russland bestimmt politisches Handeln und schlägt sich bereits jetzt in steigenden Preisen nieder. Ein Cyberangriff auf die digitale Infrastruktur des Westens dürfte längst in Gang sein, um von der Drohung des Kreml, Atomwaffen einzusetzen, einmal ganz zu schweigen.

Ukraine Krieg

Darin, dass der Krieg in der Ukraine Europäer und Deutsche nicht zuletzt aus Sorge um sich selbst so sehr beschäftigt, steckt – wie Harald Staun treffend bemerkt hat – ein verstörend selbstbezogener Ton. Das Beste, was aus dieser beschämenden Beobachtung folgen könnte, wäre die Abkehr von jenem zumutungsfreien und phantasielosen Politikmodell, das Mobilitätswende sagt und Tankrabatte meint. Und ein ernsthafteres Nachdenken darüber, was uns wichtig ist und wie wir leben wollen.

Doch mein Blog ist kein politischer Blog. Mir fehlt die Expertise, um beispielsweise die Wirksamkeit wirtschaftlicher Sanktionen zu beurteilen. Ich versuche deshalb, das große Thema auf das alltägliche Leben zu beziehen.

Putins Jacke

Am 18. März 2022 trug Vladimir Putin, der Mann, der nach eigenen Worten den Westen verabscheut, bei einer Rede im Moskauer Luschniki-Stadion über seiner kugelsicheren Weste einen weißen Cashmere-Pullover von Kiton und einen dunkelblauen Daunenparka der italienischen Luxusmarke Loro Piana. Wie die NZZ berichtete, kostet die geschmackvoll-dezente Jacke etwa 12 000 Euro.

Putins Jacke ist ein mustergültiges Qualitätsprodukt, sieht man vom statusbedingt absurd hohen Preis einmal ab. Der Kriegsverbrecher als Qualitätsinfluencer: Das Beispiel zeigt, dass der Konsum guter Produkte niemanden zu einem besseren Menschen macht – eine Einsicht, die die moralische Reichweite konsumbürgerlicher Praxis in eine ernüchternde Perspektive rückt.

Yacht

Zugleich wirft das Beispiel ein Schlaglicht auf die internationale Verflechtung von Teilen der Qualitätswirtschaft. Denn Russlands Ökonomie besteht, wie Vinzenz Hediger treffend ausgeführt hat, aus „einer rohstoffbasierten Export- in Verbindung mit einer Konsumgüterimport-Wirtschaft“. Das rückständige Land sei „noch nicht einmal Weltmarktfüh​rer für Wodka“. Konkret bedeutet dies, dass russische Konsumenten, allen voran Putins Oligarchenfreunde, keine unwichtige Einnahmequelle für qualitätswirtschaftliche Anbieter im Premiumsegment sind. Ob Hermès-Taschen in Berlin-Charlottenburg, exquisite Weine in London oder die traditionsreiche Wertarbeit der Deutschen Werkstätten in Dresden-Hellerau – sie alle verdienen viel Geld mit Nachfragern aus Putins Russland. Letztere übrigens mit dem Innenausbau von Villen und Yachten, wie der Spiegel bereits 2007 berichtete:

„Russland wird als Markt immer wichtiger für die Deutschen Werkstätten. Denn ein Villenausbau kostet in der Regel zwischen 500.000 Euro und fünf Millionen Euro – und immer mehr reiche Russen leisten sich die Maßarbeit der deutschen Innenausbauer.“

Man kommt, das zeigen diese Beispiele, nicht umhin zu registrieren, dass gute Sachen bisweilen von schlechten Verhältnissen profitieren und durchaus auch von Verbrechern nachgefragt werden.

Selenskyjs T-Shirt

Ist es legitim, in Anbetracht der Zerstörung weiterhin das gute Leben zu kultivieren? Darf man es sich mit gutem Gewissen gut gehen lassen, während Millionen von Menschen in Europa um ihr Überleben kämpfen? Es ist eine schwierige ethische Frage. Ein erster Zugang zu ihrer Beantwortung liegt in der Diskussion, ob es moralisch geboten ist, das eigene Wohlergehen durch Spenden zu begleiten, und welcher Anteil dabei angemessen wäre.

Zu entscheiden, worauf etwa zugunsten von Flüchtlingshilfe zu verzichten wäre, hängt nicht zuletzt von individuellen Spielräumen ab. Ob es sinnvoll ist, im Zuge solidarischen Handelns die Qualität des Konsumierten zu verringern, ist weniger leicht zu beantworten, als man meinen könnte, da eine solche Qualitätssenkung negative ethische Folgen an anderer Stelle mit sich bringen kann – etwa durch die Unterstützung ausbeuterischer Produktionsverhältnisse.

Sicher ist nur, dass ein schlechtes Gewissen niemandem hilft. Den Ukrainern geht es nicht besser, wenn Westeuropäer ihre abendliche Flasche Wein nur noch verschämt genießen. Ein Argument, das freilich auch als billige Lizenz dazu dienen kann, sich die schwierige Sache vom Leib zu halten.

Eine ebenso naheliegende wie bislang ungenutzte Möglichkeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, liegt darin, den Ukrainern selbst zuzuhören. Eine Videobotschaft, die Wolodymyr Selenskyj vor zwei Tagen an die westliche Welt richtete, bietet dazu Gelegenheit:

Selenskyj – vor seiner Präsidentschaft übrigens ein erfolgreicher Unternehmer, dessen Produk​ti​ons​fir​ma 300 Beschäftig​te zählte – ist sich der kommunikativen Wirkung von Konsumobjekten sehr bewusst. Seine längst legendären, in krassem Kontrast zu Putins Jacke stehenden olivgrünen T-Shirts, sind dafür das beste Beispiel. Sie signalisieren die Nähe des Präsidenten zu seinem kämpfenden Volk. Insofern kann sein Appell durchaus als Aufruf zum symbolischen Konsum verstanden werden, etwa in dem Sinne, wie Apples Vorstandschef Tim Cook bei der jüngsten Produktpräsentation des Konzerns mit blauem Pullover und gelben Apple Watch-Armband auftrat: „come with Ukrainian symbols to support Ukraine“.

Selenskyj T-Shirt

Doch so sehr man Selenskyjs Mut bewundern und ihm zustimmen wird, so sehr kann symbolischer Konsum im sicheren Westen rasch zur wohlfeilen Ersatzhandlung werden. Wäre es nicht besser, mit einem improvisierten Solidaritätssymbol zu demonstrieren, anstatt nun für die eigene Apple Watch neue Armbänder in den ukrainischen Nationalfarben zu kaufen, deren Preis von wenigstens 49 Euro als Spende bei Unicef mehr bewirken dürfte?

Selenskyj spricht in seinem Statement jedoch nicht nur über Symbolik: „come with Ukrainian symbols to support Ukraine, to support freedom, to support life“. Er drückt klar aus, dass es in diesem Krieg um mehr geht als um die Ukraine als Nationalstaat. Es geht um die Werte, für die sie steht, um Freiheit und Leben. Sie sind es, denen Putins Angriff am Ende gilt.

Der Lemberger Schriftsteller und Psychoanalytiker Jurko Prochasko äußerte sich ähnlich, als er die Gastgebergesellschaften bat, Flüchtlinge aus der Ukraine nicht nur als Entrechtete, sondern auch „als Menschen, die dazugehören, die das Leben leben und genießen wollen“ anzusehen.

Stand With Ukraine

Was Putin will, ist eine Art der Lebensführung zu zerstören. Eine, in der es nicht nur Bestes für wenige, sondern Gutes für alle gibt. So gesehen, kann es nicht darum gehen, Solidarität gegen das gute Leben auszuspielen und den Genuss in vorauseilender Unterwerfung aufzugeben. Zugleich geht es aber auch darum, sich klar zu machen, wie fragil dieses gute Leben ist, wie wenig selbstverständlich und auf welchen Voraussetzungen es aufruht.

Es ist vielfach gesagt worden, dass der Krieg gegen die Ukraine ein Realitätsschock ist. Das gilt nicht nur geopolitisch, es gilt auch lebensweltlich. Er rückt das gute Leben in einen größeren Kontext. Er zeigt, dass es Freiheit und die prinzipielle und tendenzielle Zugänglichkeit des Guten sind, die einen wohlverstandenen Westen von autokratischen Herrschaftsformen unterscheiden.

Wir werden wieder gewahr, welches Privileg und welches Glück unsere Art zu leben ist. Wir sehen Menschen, die uns zeigen, was wirklich wichtig ist, indem sie zugunsten von Höherem alles riskieren. „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, antwortete Präsident Selenskyj auf das Angebot der USA, ihn aus Kiew in Sicherheit zu bringen.

Der Krieg lehrt uns nicht, dass niemand mehr gut leben soll. Im Gegenteil. Aber er zeigt auch, worauf es noch vor dem guten Leben ankommt, weil alles andere darauf beruht.

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25. März 2022