Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Ein Abendessen in Tokyo

Edmund de Waals wunderbares Buch Der Hase mit den Bernsteinaugen, aus dem das folgende Zitat stammt, schreibt Familien- und Zeitgeschichte am Leitfaden von Dingen und Räumen:

„Ein Omlett und Salat, dazu getoastetes Brot aus einer der exzellenten französischen Bäckereien in den Kaufhäusern an der Ginza. Ein Glas kalten Weißwein, Sancerre oder Pouilly Fumé. Einen Pfirsich. Etwas Käse und dann ausgezeichneten Kaffee. Schwarzen Kaffee (…) Ich blieb, bis Jiro mit den japanischen und englischen Abendzeitungen und den Croissants für das Frühstück von der Arbeit kam. Jiro legte Schubert auf oder Jazz, wir nahmen einen Drink, und dann ließ ich sie allein.“

Der britische Keramikkünstler erkundete die Spuren seiner Vorfahren, als er in fünfter Generation 264 sogenannte Netsuke erbte, japanische Miniaturen aus geschnitztem Elfenbein oder Holz. Das Paris der Belle Époque, das Wien der Jahrhundertwende und das Tokyo der Nachkriegszeit sind Stationen dieser außergewöhnlichen Reise in die Geschichte der jüdischen Familie Ephrussi, aus der de Waal stammt. Letzter Vorbesitzer der Netsuke war de Waals Großonkel Iggie, der mit seinem Partner Jiro in Japan lebte. Bei einem Abendessen mit diesem weltläufigen und eleganten Mann erfuhr der Autor zum ersten Mal von der Existenz der ungewöhnlichen Sammlung:

„Während in der Dämmerung die Beleuchtung an den Baukränen anging und das Licht immer weiter hinein in die Bucht von Tokio fiel, dachte ich, dass ich allmählich eine Art Sekretär wurde und vielleicht aufzeichnen sollte, was er über Wien vor dem Ersten Weltkrieg erzählte, dass ich mit einem Notizbuch neben ihm sitzen sollte. Ich tat es nie. Es kam mir förmlich und unpassend vor. Und gierig: Was für eine tolle, üppige Geschichte, davon nehm ich mir was. Wie auch immer, mir gefiel die Art und Weise, wie die Wiederholung die Dinge glattschleift; Iggies Geschichten hatten etwas von Bachkieseln.“

Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2011. 416 Seiten. 24,90 Euro. Taschenbuchausgabe bei dtv 9,90 Euro.

13. September 2013