Rimowa. Eine Fallstudie über die Luxusgüterindustrie
Rimowa ist eine 1898 in Köln gegründete Koffermarke, die für ihre mit markanten Rillen versehenen Aluminiumkoffer bekannt ist. Nach 118 Jahren Eigenständigkeit erwarb das Luxuskonglomerat LVMH 2016 die Mehrheit an der Traditionsfirma. Was ändert sich, wenn global agierende Marketingprofis die strategische Neuausrichtung eines mittelständischen Familienunternehmens in die Hand nehmen? Eine Fallstudie.
Im Mai 2013, sechs Jahre nach dem Kauf, geschah das Undenkbare. Der Teleskopgriff meines Rimowa-Reisekoffers „Topas“ verhakte sich. Kurzerhand fuhr ich in ein Gewerbegebiet im Kölner Stadtteil Ossendorf, wo sich der Stammsitz des Unternehmens befindet. In einer der großen Fertigungshallen gab ich meinen Koffer ab und fragte, wie lange eine Reparatur wohl dauern möge. Der Mann im Kittel, der mit meinem Koffer verschwand, ließ die Frage unbeantwortet. Nach kurzer Zeit kehrte er mit dem wieder tadellos funktionierenden Koffer zurück. Auf die Frage, was ich ihm schulde, zeigte er mit einem stummen Lächeln auf die Kaffeekasse.
Rimowa und der Charme des Aviatischen
Paul Morszeck, der Firmengründer, zählt zu den Menschen des 20. Jahrhunderts, die der Fotograf August Sander als physiognomisches Porträt seiner Zeit versammelt hat. Industrieller, Weiden bei Köln, ca. 1919/20 ist das Foto betitelt, das in Sanders legendärer Portraitsammlung Platz fand. Es war Morszeck Sohn Richard, der dem Unternehmen seinen heutigen Namen gab: RIchardMOrszeckWArenzeichen, RIMOWA. Ein verheerender Firmenbrand brachte Morszeck 1937 auf die Idee, Koffer aus feuerfestem Leichtmetall zu bauen.
1950 kam das Modell „Topas“ auf dem Markt, das erste in der Firmengeschichte mit der markanten Rillenstruktur. Inspiriert war sie der Legende nach vom 1919 erfundenen Flugzeug Junkers F13. Bis heute profitiert die Marke von der Erinnerung an eine Zeit, in der Flugreisen etwas Mondänes anhaftete. Zudem schätzten Fotoreporter und Filmleute den schlanken Funktionalismus der Rimowa-Produkte, was den Koffern einen reporterhaften Cool verlieh.
Zwei Bildbände, einer 2018 bei Assouline, ein zweiter 2020 bei Rizzoli New York erschienen, versammeln eine Fülle von Bildern aus dem Firmenarchiv. Besonders dem zweiten Band gelingt es, den aviatischen Charme des Produktes zu transportieren.
Mit ihrer Kombination aus Leichtigkeit und Stabilität liefern die klassischen Koffer einen klaren Gebrauchswert, während die Kratzer, Beulen und Aufkleber, die sich im Laufe eines Reiselebens auf dem Aluminium ansammeln, vom kosmopolitischen Leben seiner Besitzer erzählen. Das diskret wiedererkennbare Rillenmuster scheint wie fürs Branding gemacht. Kein Wunder, dass Rimowa das Begehren der Luxusbranche weckte.
Die Lifestyle-Formel
Im Oktober 2016 verkaufte Dieter Morszeck, der Enkel des Rimowa-Gründers, für 640 Millionen Euro 80 Prozent der Anteile seines Unternehmens an den französischen Luxuskonzern LVMH. Als Ko-Geschäftsführer stellte Paris ihm Alexandre Arnault zur Seite, den gerade einmal 24 Jahre alten Sohn des LVMH-Vorstandschefs und Großaktionärs Bernard Arnault. Mitte Mai 2018 schied Morszeck aus dem Unternehmen aus.
Der neue Eigentümer brachte angesagte Kommunikationsexperten wie Hector Muelas von Vice Media als Chief Brand Officer (bis dieser im Juni 2019 zu Apple wechselte) und den zuvor bei Nest im Silicon Valley tätigen Rochus Jacob als Head of Industrial Design in Führungspositionen. Was folgte, war eine geradezu lehrbuchartige Fallstudie in Sachen Neupositionierung.
Im März 2018 kündigte Rimowa flächendeckend allen Händlern in Europa, darunter rund 500 in Deutschland. Etwa die Hälfte des Warenbestandes wurde zurückgekauft, um das Produkt exklusiver und die Preise einheitlicher zu machen, wie das Branchenmagazin Business of Fashion berichtet. Das Handelsblatt zitiert einen der gekündigten Fachhändler, der den Einschnitt bitter nennt
„weil manche bis zu 40 Prozent ihres Umsatzes mit Rimowa erzielen. Und die Marke sei nicht leicht durch andere zu ersetzen. Einige Händler beklagen, dass sie die Marke über Jahrzehnte mit aufgebaut haben und nun aussortiert werden.“
Von nun an galten neue Bedingungen: Händler müssen mindestens einen Netto-Umsatz von 200.000 Euro machen, was laut Handelsblatt einem Verkaufswert von gut 400.000 Euro oder mehr als 550 Koffern entspricht. Zu den Voraussetzungen für Vertragshändler zählt künftig auch der Erwerb einer Shop-im-Shop-Ausstattung sowie ein „angemessenes Markenumfeld“, konkret: Händler „dürfen Rimowa nur dann in ihren Läden verkaufen, wenn sie mindestens zwei Referenzmarken wie etwa Boss, Bottega Veneta, Burberry oder Gucci führen“, wie das Handelsblatt erläutert. Für etwa 400 der deutschen Händler dürfte dieses Kriterium nach Einschätzung von Experten das Aus bedeutet haben. Ende 2019 hatte Rimowa Business of Fashion zufolge die Verkaufsorte von 5000 auf 500 reduziert. Heute erfolgen 80% der Verkäufe durch firmeneigene Verkaufsorte, darunter den neu lancierten Webshop.
Man kann kaum ein sprechenderes Beispiel dafür finden, wie ein zwar immer schon hochpreisiges, aber letztlich doch einem qualitätsbewussten Mittelschichts-Käuferkreis zugeordnetes Produkt ins Luxussegment verschwindet. Dazu passt, dass LVMH sämtliche Print-Anzeigen aufgab und seither konsequent auf datengenerierendes Online-Advertising setzt. An die Stelle von Facheinzelhändlern treten neben dem Webangebot Pop-up Stores für ein jüngeres Publikum sowie bislang unerschlossene Märkte in den USA, Asien und im Mittleren Osten.
Fünf weitere Schachzüge, die mit der Neupositionierung einhergehen, wirken wie ein Business School Template:
- Änderung des Designs bei 100% der Produkte, einschließlich der visuellen Identität
- Reduzierung der Angebotspalette bei gleichzeitiger Erhöhung der Möglichkeiten zur Customization
- Temporäre Kooperationen mit Kreativstars wie Virgil Abloh und Olafur Eliasson sowie Streetwearbrands
- Erweiterung der Produktlinie, zum Beispiel mit Handtaschen, iPhone Hüllen und Sonnenbrillen
- Erhöhung der Preise um durchschnittlich 20 %
Wo genau die Koffer heute hergestellt werden, ist der Website nicht eindeutig zu entnehmen. Bereits vor der Übernahme durch LVMH produzierte Rimowa nicht nur in Köln, sondern seit 1997 auch in der Tschechischen Republik, seit 2008 in Kanada und überdies in Brasilien.
Die Garantie ist unterdessen auf 5 Jahre beschränkt und setzt eine Online-Registrierung voraus. Es sieht alles danach aus, als seien die Zeiten, in denen man einfach mit seinem reparaturbedürftigen Koffer in eine Kölner Produktionshalle spazieren konnte, endgültig vorbei.
Mehr dazu in meinem Buch Qualität!
Weitere Infos >
Dan Thawley: Rimowa. New York: Assouline 2018.
Rimowa: Rimowa, An Archive, Since 1898. New York: Rizzoli 2020.
Abbildungen: © RIMOWA: An Archive, Since 1898, by RIMOWA, Rizzoli New York, 2020
28. Januar 2021