Konsum und Gewalt: Eine Studie von Alexander Sedlmaier
Der Historiker Alexander Sedlmaier hat den radikalen Protest in der Bundesrepublik untersucht – am Leitfaden der Kritik von „Versorgungsregimen“. Seine 463 Seiten starke Studie über Konsum und Gewalt erinnert an eine Zeit, in der das Verlangen nach utopischem Umbruch die Debatten prägte. Sie lohnt die Lektüre.
„Konsumscheiße“: Versorgungsregime und ihre Kritik
Man kann nicht nicht konsumieren. Der Konsum, schreibt Alexander Sedlmaier in seiner Studie Konsum und Gewalt, ist „eine Fundamentalkategorie der menschlichen Existenz“ (23). Wird er kritisiert, richten sich die Einwände „stets gegen konkrete Manifestationen bestimmter Versorgungsregime“ (23). Unter letzteren versteht der in Wales lehrende Historiker „das Netzwerk der Aktivitäten, die den Konsum mit den Machtverhältnissen verbinden, die ihn ermöglichen und gleichzeitig andere Formen von Konsum und Produktion verhindern“ (22). Diese methodische Weichenstellung ermöglicht es ihm, den mit dem Jahr 1968 verbundenen, aber nicht darauf beschränkten radikalen und militanten Protest in der mittleren und späten Bundesrepublik neu zu betrachten: aus der Perspektive konsumkritischer Debatten. Die Diskussionen um die spätkapitalistische Wohlstandsgesellschaft bildeten Sedlmaier zufolge einen zentralen, bislang jedoch kaum berücksichtigten Bezugspunkt der Legitimation politischer Gewalt, nicht zuletzt durch die Terroristen der RAF.
Sedlmaier beschäftigt sich in seinem Buch mit den Auseinandersetzungen um Warenhäuser, Fahrpreiserhöhungen, die Springer-Presse, Hausbesetzungen und globale Verantwortung. Konsum und Gewalt untersucht Protestformen wie Kaufhausbrände, das Einwerfen von Schaufenstern, Ladendiebstahl, Schwarzfahren und Boykott bis hin zu eher spaßbezogenen Aktionen wie Adbusting, dem Freilassen hunderter weißer Mäuse im Karstadt-Kaufhaus am Berliner Hermannplatz 1980 oder dem Versuch, Verkäuferinnen in endlose Verkaufsgespräche zu verwickeln, um die kapitalistischen Abläufe zu stören. Auch alternativer Konsum zählt zum Gegenstand seiner Untersuchung, sei es in Form von Drogenkonsum, Mitfahrzentralen oder der Dialektik von Gentrifizierungsprozessen.
Zwei wichtige Kapitel von Konsum und Gewalt widmen sich einer umfassenden Re-Lektüre der Schriften von Herbert Marcuse sowie einer detaillierten, auch bisher unbekannte, den Akten des Bundeskriminalamtes entnommene Quellen berücksichtigende Analyse der konsumbezogenen Argumente von Ulrike Meinhof. In einem Positionspapier der RAF hatte sie 1972 geschrieben, die Menschen seien derart korrumpiert, dass sie „für’s Auto, ein paar Plünnen, ’ne Lebensversicherung und ’nen Bausparvertrag jedes Verbrechen des Systems billigend in Kauf nehmen“ (156). An anderer Stelle (zit. S. 165) verdichtete Meinhof ihre Kritik am Konsumkapitalismus folgendermaßen:
„der konsumscheiß … der private mikrokosmos in den wohnlöchern, die balanceakte auf den prestigeleitern, die angstkarrieren, die verdinglichten hoffnungen … die urlaubspläne, die schulden“
Eine große Stärke es Buches ist es, dass Sedlmaier die Verschiebung marxistischer Positionen von einer Analyse der Produktionsbedingungen zu einer Kritik der Konsumverhältnisse trotz ihrer bisweilen groben Art ernst nimmt; gerade so vermag er ihnen historisch gerecht zu werden. Denn das Verschwinden vieler Argumente aus den gegenwärtigen Diskussionen macht die Überlegungen von 1968 noch nicht falsch. Diese bestehen zwar zum einen aus bekannten Topoi wie der Unterscheidung zwischen ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Bedürfnissen, der Kritik am ‚manipulativen‘ Charakter der Werbung, der Mär vom Verschwinden des Fachhandels sowie dem Beklagen der Kommodifikation zuvor nicht kommerzieller Bereiche des privaten Lebens. Auf den zweiten Blick erweisen sich viele Denkfiguren der nunmehr fünfzig Jahre zurückliegenden Debatten freilich als erstaunlich aktuell: Am „Export der notwendigen Arbeit in die Dritte Welt bei gleichzeitigem Abschöpfen der Gewinne“ (157) hat sich bis heute nichts geändert. Dass immer mehr und stärker verfeinerte Genüsse immer mehr Arbeit zu ihrer Finanzierung erzwingen (und dadurch nicht warenförmige Beschäftigungen und Formen des Selbstausdrucks verhindern) ist kaum von der Hand zu weisen, ebensowenig der Hinweis auf subtile Formen der Kontrolle, die von den Betroffenen sogar als angenehm empfunden werden: der verbreitete Deal, Dienste gegen Preisgabe persönlicher Daten zu erhalten, belegt die Aktualität des Arguments. Bemerkenswert unverbraucht wirkt auch die Hoffnung auf das in Automatisierungsprozessen verborgene Befreiungspotential. Das im Industriekapitalismus nur moderat eingelöste Versprechen erfährt vor dem Hintergrund des digitalen Wandels eine Wiederbelebung, die sich unter anderem in der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ausdrückt.
„Konsumterror“: Der Zusammenhang von Konsum und Gewalt
Sedlmaier interessiert, „warum aus jugendlichen Rebellen (…) unbeugsame Gegner des Staates“ (137) wurden. Um diese Frage zu beantworten, rekonstruiert er eine komplexe Eskalationsdynamik aus irreführender bis demagogischer Berichterstattung, Doppelmoral, Kriminalisierung legitimer Proteste, polizeilicher Willkür, juristischen Fehlurteilen, Unverhältnismäßigkeit auf beiden Seiten sowie ideologischen Fehleinschätzungen, menschenverachtender Gewaltbereitschaft und gefährlichen Argumentationsverläufen.
Eine zentrale Argumentationsfigur, die den Weg von der Konsumkritik zum Terror ebnete, bestand im Zusammenspannen von Nah- und Fernereignissen mit dem Ziel, beider Gewaltförmigkeit aufzuzeigen und zu entlarven. Ulrike Meinhof im Mai 1967:
„Es gilt als unfein, mit Pudding und Quark auf Politiker zu zielen, nicht aber, Politiker zu empfangen, die Dörfer ausradieren lassen und Städte bombardieren.“
Einem zynischen Statement der Kommune I aus dem Jahr 1967 zufolge sollten Kaufhausbrände ein „Vietnamgefühl“ nach Europa bringen und so die ‚verblendeten‘ Massen mobilisieren. Die Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen vom 3. April 1968, bei denen unter anderem die späteren RAF-Mitglieder Andreas Baader und Gudrun Ensslin mehrere Brandsätze in zwei Frankfurter Warenhäusern zündeten, waren laut Sedlmaier „die ersten politisch motivierten Anschläge, die über den Kontext der Demonstrationsdelikte hinausgingen“ (87). Der Terror begann mit Anschlägen auf Schauplätze des Konsums.
Von militanten Protesten zu alternativen Produkten
Dass die legendäre Kommune I, wie Sedlmaier aufzeigt, schon 1967 „einen schwunghaften Versandhandel mit Mao-Bibeln, selbstverfassten Schriften, Texten von Wilhelm Reich, Horkheimer und anderen sowie mit revolutionären Aufklebern und Buttons“ (62) betrieb, macht klar, dass diese alternative Lebensform kein Außen der Ökonomie darstellte. „Neben begeisterten Kunden“, fügt der Historiker lakonisch hinzu, „gab es häufig auch Beschwerden in Geldfragen.“
In den 80er Jahren waren „die mittlerweile beruflich etablierten Anhänger der Studentenbewegung zumindest potentiell zu einem neuen Marktsegment geworden“ (196f). Die „Errichtung alternativer Warenketten“ (337) wie beispielsweise Fair Trade gaben der Kritik einen konkreten und konstruktiven, aber eben auch systemimmanenten und individualisierenden Dreh. Politik transformierte sich in „Politik mit dem Einkaufskorb“, während die Hoffnung auf grundlegenden Wandel schwand:
„Letztlich stellten fairer Handel und ethisches Marketing keine fundamentale Bedrohung für das kapitalistische System dar.“
Wie tragfähig diese Verschiebung langfristig bleibt, ist jedoch keineswegs ausgemacht. Werden sozialer Zusammenhalt und individuelle Zufriedenheit an Konsummöglichkeiten gekoppelt, stellt sich die Frage nach Quellen des Gemein- und Eigensinns, wenn sich die Wirtschaftslage einmal eintrübt. Zudem wirft der ethische Kapitalismus Fragen nach augenwischendem Marketing etwa in Gestalt des Greenwashing auf. Und schließlich bleibt unbeantwortet, woher der Wertekapitalismus Ressourcen der Erneuerung beziehen kann, wenn es kein Außen des Ökonomischen mehr gibt.
Sedlmaiers Buch zeigt, dass der Protest gegen Versorgungsregime keineswegs auf die Zeit um 1968 beschränkt war, sondern dauerhaft zum Diskurs der Nachkriegszeit gehört. Es macht deutlich, dass Gewalt keineswegs einseitig von einer Seite der politischen Auseinandersetzungen ausging. Es belegt, dass die konsumkritischen Argumente nicht so schlicht ausfielen wie vielerorts behauptet. Und es deutet an, dass die Proteste durch das Aufkommen alternativer Produkte auf unbeabsichtigte Weise Erfolg hatten. Schließlich legt es nahe, dass die Moralisierung der Märkte klassische Sozialkritik und die Systemfrage nicht erledigt hat.
Konsum und Gewalt ist so lesenswert, weil es an den Ernst einer kaum noch präsenten Auseinandersetzung erinnert und die Wichtigkeit politischer Phantasie sowie eines Denkens in gesellschaftlichen Alternativen aufzeigt.
Wo Kritik heute ansetzen kann und wie aufnahmefähig das Konsumsystem auf Dauer bleibt, sind Fragen, die sich nach der Lektüre umso dringender stellen. Sedlmaier zitiert die anarchistisch-libertäre Berliner Zeitschrift Agit 883, die sich bereits 1970 gegen die „kommerzielle Nutzung alternativer Lebensformen“ (150) wandte:
„Selbst in der größten Wirtschaftskrise kam die Textilindustrie nicht auf den Gedanken, in ihren Boutiquen die Uniformen des Rotfrontkämpferbundes als letzten Schrei zu kreieren.“
Sein Kommentar bringt den Stand der Dinge auf den Punkt:
„Das sollte sich als ein zu optimistischer Schluss herausstellen, der die Flexibilität des Kapitalismus unterschätzte.“
Alexander Sedlmaier: Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik. Suhrkamp Verlag: Berlin 2018.
15. Februar 2018