Der Blog von Dirk Hohnsträter
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Denis Diderot und der Diderot-Effekt

Wie hat der große Aufklärer Denis Diderot die Konsumforschung angeregt? Und wo würde er heute einkaufen?

Auf den Tag genau vor 300 Jahren kam Denis Diderot (1713-1784) im französischen Langres als Sohn eines Handwerkers zur Welt. Das Schaffen des Aufklärers beeindruckt bis heute durch gedanklichen Mut, Einfallsreichtum, literarische Vielfalt und Elan.

Diderot

Diderot war nicht nur federführender Herausgeber der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, er schrieb auch etwa 3000 Einträge in dem berühmten Nachschlagewerk. Sein Oeuvre umfasst neben diskursiven Texten und Kunstkritiken solche in Briefform sowie Erzählungen und Dialoge. In seiner Abhandlung über den philosophischen Dialog bemerkt Vittorio Hösle, niemand neben Diderot habe es geschafft, „mit solcher Eleganz aus alltäglicher Konversation existenziell drängende Fragen hervorsprießen zu lassen; keiner ist vergleichbar originell beim Experimentieren mit den formalen Möglichkeiten des Genres gewesen“ (Der philosophische Dialog. München 2006, S. 118).

Diderot: Konsumforscher avant la lettre

Kaum überraschend, hat Diderot auch der Konsumkulturforschung Anregungen hinterlassen – avant la lettre gewissermaßen, denn der moderne Konsum begann sich erst nach seiner Lebenszeit herauszubilden. Ob der Philosoph durch sein naturalistisches Denken, sein Interesse am Menschen, seinen Sinn fürs Theater oder einfach seine Entdeckerfreude ein Sensorium für die Vertracktheiten des Umgangs mit käuflichen Dingen hatte, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall regte er den amerikanischen Anthropologen Grant McCracken dazu an, in seinem Buch Culture and Consumption (Bloomington & Indianapolis 1988) ein Kapitel über „Diderot Unities and the Diderot Effect“ zu veröffentlichen.

Diderot Hausrock

McCracken bezieht sich darin auf einen Essay des Aufklärers mit dem Titel Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern, oder: Eine Warnung an alle, die mehr Geschmack als Geld haben aus dem Jahr 1768 (zuerst veröffentlicht 1769).

Der Diderot-Effekt

In diesem Text schildert Diderot die Dynamik, die mit dem Ersatz seines alten Morgenmantels durch einen neuen einsetzt. Während der alte zum Abwischen der Schreibfeder taugte und mit seinen Tintenspuren den Mann des Wortes zu erkennen gab, wirkt der neue steif und künstlich:

„Warum habe ich ihn nicht behalten? Er paßte zu mir, ich paßte zu ihm. Er schmiegte sich jeder Wendung meines Körpers an; er hat mich nie gestört; er stand mir so gut, daß ich mich ausnahm wie von Künstlerhand gemalt.“

Doch damit nicht genug. Das neue, scharlachrote „Luxuskleid“ birgt ein weiteres Problem: im Arbeitszimmer des Denkers wirkt es wie ein Fremdkörper; dem Ensemble der Wohnung mangelt es nun an Stimmigkeit:

„Mein alter Hausrock und der ganze Plunder, mit dem ich mich eingerichtet hatte – wie gut paßte eins zum andern!“

Um diese Ordnung wieder herzustellen, bedarf es weiterer Anschaffungen: neuer Tapeten, Möbel, Kunstgegenstände. Der Ersterwerb zieht Ergänzungskäufe nach sich, das Bewährte wird ausrangiert. Es ist dieser Zwang zur Stimmigkeit, den McCracken als „Diderot-Effekt“ bezeichnet. Er sei ein Schlüsselinstrument, „with which culture controls consumption“ (S. 118). In den Worten Diderots:

„Ich war ganz und gar Herr meines alten Hausrocks; ich bin zum Sklaven meines neuen geworden.“

Interessant ist, dass der Diderot-Effekt nach McCracken den Konsum sowohl einschränken als auch entfesseln kann. Einschränken, weil ein Konsument nur diejenigen Produkte sucht, die zum Selbstbild seiner sozialen Gruppe passen und dieses symbolisch sichtbar machen. Entfesseln, weil ein neues Objekt – wie in Diderots Fall – den Erwerb zahlreicher anderer auslöst. Und auch, weil „departure purchases“ (S. 126) zum Experimentieren mit Identitätsvorstellungen anregen können.

Wo würde Diderot einkaufen?

Vielbeschäftigt und vom Einkaufen genervt, wollen wir Diderot keinen langen Weg zumuten – und schicken den Bewohner der Pariser rue de Richelieu 39 nur ein paar Häuser weiter zur Nummer 52. Denn dort befindet sich die Boutique Kitsuné. Der Stil dieses charmanten Labels kann als preppy bezeichnet werden, gerade richtig für einen Intellektuellen. Diderot dürften zudem Witz und Sinn für Details des Designers gefallen – und natürlich die Langlebigkeit der hochwertigen Teile. Voilà !

Die Friedenauer Presse hat Diderots Text, ins Deutsche übertragen von Hans Magnus Enzensberger, in einer sehr schönen, fadengehefteten Broschurausgabe vorgelegt: Denis Diderot: Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern / Über die Frauen. Zwei Essays. Aus dem Französischen von Hans Magnus Enzensberger. Berlin: Friedenauer Presse, Neuauflage 2010. 32 Seiten. 9,50 Euro.

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Porträt: Wikimedia Commons

5. Oktober 2013