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Zigarren. Was leistet die Konsumkritik von Heiner Müller?

Unter den zahlreichen Kapitalismuskritikern bildete der Schriftsteller Heiner Müller eine interessante Ausnahme, denn seine Konsumkritik wusste darum, dass er selbst konsumiert – nicht zuletzt teure Zigarren. Eine Neuausgabe der „Texte zum Kapitalismus“ des 1995 verstorbenen Dramatikers wirft die Frage auf, ob Müllers Provokationen noch immer eine Herausforderung darstellen.

Heiner Müller Kapitalismuskritik

Die Konsumkritik von Heiner Müller

Von der heilen Welt der kaputten 1950er Jahre über den Postmodernediskurs der späten 70er bis zum Wendewirbel der 90er reichen Müllers kapitalismuskritische Texte. Liest man sie erneut, fällt ein Kontinuum auf: dem Konsum, ob als Leitbild in der DDR oder als Lebenswelt im Westen, gilt seine Abscheu. Das ganze Repertoire konsumkritischer Topoi wird aufgeboten, die Zielscheiben der Kritik sind bekannte Adressen: Coca Cola und Marlboro, Esso und Mercedes, Deutsche Bank und Bild Zeitung, das Fernsehen („Ekel / Am präparierten Geschwätz / Am verordneten Frohsinn“), die Bestsellerliteratur, Kaufhallen („Gesichter / Mit den Narben der Konsumschlacht“), Technisierung und Amerikanisierung. 1979 schreibt er:

„Am Verschwinden des Menschen arbeiten viele der besten Gehirne und riesige Industrien. Der Konsum ist die Einübung der Massen in diesen Vorgang, jede Ware eine Waffe, jeder Supermarkt ein Trainingscamp.“

Müllers krachende Kritik zieht dermaßen vom Leder, dass man das Lachen kaum zurückhalten kann:

„Wenn man beispielsweise durch eine Einkaufspassage in Düsseldorf spaziert, stößt man nur noch auf massenhaften Lebensersatz (…) das Leben in Düsseldorf ist nicht lebenswert. Fünftausend rosa Slips bejahen nicht das Leben“

Bezeichnend für den von Heiner Müller vertretenen Typus der Kapitalismuskritik ist die Vorstellung, die Massen seien von ihrem eigentlichen Wollen entfremdet:

„Eine Bevölkerung, die dem Trommelfeuer der Werbung für die Wunder des Kapitalismus als dem verschlossenen Garten der Lüste täglich unmittelbar ausgesetzt ist, zahlt ihren Beitrag zur Befestigung der Zukunft nicht mit Jubel.“

„In den McDonald’s-Läden sitzt doch schon eine ganz neue Menschenrasse, die begeistert Scheiße schlürft.“

Interessanter wird es, wenn der Dramatiker dem Kapitalismus humane Regungen entgegenhält:

„Diese ganze Konsum- und Unterhaltungsmaschinerie hat doch den Zweck, daß niemand mehr Zeit haben soll, auch nur eine Sekunde lang an sein eigenes Ende zu denken. Alle Anstrengung der Industrie zielt darauf, ein möglichst lückenloses Netz von Unterhaltung, Zerstreuung und Ablenkung über die Menschheit zu spannen, damit niemand mehr mit sich allein ist.“

Zigarren: Privileg und Reflexionsanlass

Trotz ihres generischen Tons bringen Müllers Äußerungen etwas mit, worauf eine Konsumkritik, die auch heute noch ernst genommen werden will, nicht verzichten kann: den Selbstbezug. Heiner Müller unterscheidet sich von unergiebigeren Stimmen durch seine Reflexivität. Ihm ist klar, dass seine Westreisen mit ihren Flughäfen, Taxifahrten und Hotelbars, dass Whisky und Zigarren ein Privileg darstellen. Valuta ermöglicht es ihm, sich von „diesem trüben Menschenbrei“ der „glücklichen Idioten“ abzusetzen. Auch sein Ekel ist ein Privileg:

„Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße.“

Zudem zeichnen Müllers Texte sich durch ein Wissen um die eigenen Irrtümer aus. 1989/90 notiert er:

„Auf dem Bildschirm sehe ich meine Landsleute / Mit Händen und Füßen abstimmen gegen die Wahrheit / Die vor vierzig Jahren mein Besitz war / Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend“

Es heißt, Müller habe Zigarren der Marke Montecristo A geraucht, deren derzeitiger Preis bei 42 Euro liegt. Am 19. Januar 1994 veröffentlicht er unter dem Titel „Werteverfall“ in der FAZ einen Nachruf auf Zino Davidoff:

„Der Qualität seiner Zigarren entsprach ihr Preis, der den Genuss zur Erfahrung machte. Die Qualität entspricht nicht mehr dem Preis, seit er sein Imperium von Kuba in die Dominikanische Republik verlegt hat. Dass der große Davidoff seine Zigarren aus dem allgemeinen Werteverfall nicht heraushalten konnte, gehört zu den Tragödien des Jahrhunderts.“

Die ‚Dialektik‘ dieser Müller-Sätze liegt darin, dass genau dann, als Davidoffs Zigarren nicht mehr im kubanischen Sozialismus, sondern im Kapitalismus der Dominikanischen Republik produziert wurden, seiner Ansicht nach ihren hohen Preis nicht mehr wert waren. Der Tauschwert, der Profit dominiere nun den Gebrauchswert, den Genuss. Nicht Qualität und ihre sinnliche Erfahrung stünden seither im Vordergrund, sondern der Versuch, ein Maximum an Gewinn aus minderwertigen Waren herauszuholen:

„MORGEN FRÜH WENN GOTT WILL
Die Geschäfte“

Aber wie sähe die Alternative zum profitmaximierenden System aus?

Alternativen zum Konsumkapitalismus

Müllers Texte eignet kraft ihrer Literarizität das Potenzial, an gedankliche Figuren heranzukommen, die in planerer Sprache unerkundet blieben. 1990 diagnostiziert er:

„Vom Zentrum aus kann man nichts mehr bewegen. Ins Zentrum gehören die Beamten. Die Intellektuellen müssen raus aus der Politik. Da verlieren sie ihre Kraft.“

Was er konkret anbietet, ist allerdings kaum überraschend: Druck von unten, „Phantasieräume“, „der universale Diskurs, der nichts ausläßt und niemanden ausschließt“ und „konkrete Analysen der Lage“.

Interessant wird es erst, wenn Müller das reflexive Moment wieder in seine Gedanken einspeist. Auf die Ökologisierung der Politik, mithin nachmarxistische, wachstumskritische Gegenmodelle zum Kapitalismus angesprochen, bemerkte er 1989 nämlich etwas, das die ihrem Autor recht distanzlos gegenüberstehenden Herausgeber nicht ohne Grund an den Schluß des Bandes gestellt haben dürften. Denn erst dieses Zitat eröffnet tatsachlich einen „Denkraum“, der den Horizont von 1995 verlässt und die Konsumkritik auf jene Komplexität zurückverweist, der sie gerecht werden muss, will sie nicht als überholt, vage und belanglos abgetan werden. Müller fragt nämlich danach, ob eine ideale Welt ohne kaputte Elemente eigentlich lebenswert wäre. Oder anders gesagt, ob Kapitalismuskritik nicht viel zu kurz greift, wenn sie nicht den Reiz des Kritisierten in ihre Überlegungen einbezieht:

„Die Grünen wollen doch die heile Welt, aber die heile Welt ist die letzte; es gibt kein Leben ohne kaputtes Leben. Da freut man sich doch über jeden sterbenden Baum, weil er beweist, daß es noch Leben gibt. Wenn ich morgens Müsli esse, will ich mich eine Stunde später erschießen. Da trinke ich doch lieber Benzin zum Frühstück und esse gierig ein blutiges Steak dazu.“

Heiner Müller, „Für alle reicht es nicht“. Texte zum Kapitalismus. Hg. von Helen Müller und Clemens Pornschlegel in Zusammenarbeit mit Brigitte Maria Mayer. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017.

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